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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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er auf die hohe Lehne seines Stuhls. Was würde man nur denken, wenn jetzt jemand das Kontor betrat, ging ihr durch den Kopf. Sie auf dem kostbaren Stuhl des Domherrn hinter seinem Pult.
    »Und nun kratzt Ihr diese Zeilen ab, bis die Buchstaben nicht einmal mehr zu erahnen sind«, trug er ihr auf und zeigte ihr, welche Zeilen er meinte. Das war nicht nötig gewesen, sie hätte es von allein gewusst. Traurig machte sie sich an die Arbeit. In dem Augenblick, da sie sich entschieden hatte, ihm die Wahrheit zu offenbaren, war ihr klar gewesen, dass Vitus’ Vorteil, sei er auch noch so gering, verloren war. Dennoch war sie enttäuscht. Es betrübte sie, die Worte selber vernichten zu müssen, doch freilich war es genau das, was sie verdient hatte. Sie ging vorsichtig zu Werke, damit sie am Ende nicht noch das Pergament beschädigte. Daher dauerte es eine geraume Weile, bis sie endlich fertig war. Marold stand die ganze Zeit am Fenster und beobachtete, wie es auf der Baustelle mit dem Dom voranging. Er hetzte sie nicht, sondern wartete in Ruhe ab, bis sie schließlich verkündete: »Es ist getan, Herr.«
    Marold trat zu ihr und betrachtete den Bogen. Er hob ihn hoch und hielt ihn ans Fenster, so dass die Sonne ihn in helles Licht tauchte.
    »Sehr schön, Ihr seid sehr sorgfältig vorgegangen.« Damit legte er den Bogen wieder auf das Pult.
    Esther machte Anstalten, sich zu erheben, seinen Stuhl freizugeben. So bequem er war, so fehl am Platz fühlte sie sich dort.
    »Nein, bleibt noch sitzen«, sagte er und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Es gibt noch mehr für Euch zu tun.«
    »Wie Ihr wünscht«, entgegnete sie unsicher. Was hatte er nur vor?
    Sie sah ihm zu, wie er etwas Tinte aus einem kostbaren gläsernen Gefäß in das Kuhhorn füllte, das in einer Aussparung seines Pults steckte. Gleich darauf legte er ihr eine Feder hin.
    »Wir können die Stelle, die Ihr so gewissenhaft von Buchstaben befreit habt, doch nicht nackt lassen. Wie würde das aussehen? Ein jeder würde sich doch fragen, wie die Lücke wohl zustande gekommen ist. Meint Ihr nicht?«
    »Ich weiß nicht. Schon möglich.« Himmel, dieser Domherr führte doch wohl nicht auch etwas Böses im Schilde. Womöglich war er nun ebenfalls auf die Idee gekommen, sich einen Vorteil zu seinem ganz eigenen Nutzen zu erschleichen. Hörte das denn nie auf?
    »Ich werde Euch etwas diktieren, womit Ihr die Lücke auffüllen könnt.«
    Er legte nachdenklich einen Finger an die Nase. Welch eine Posse! Gewiss wusste er längst, was er sie würde schreiben lassen. Wenn sie in den letzten Stunden und Tagen eines gelernt hatte, dann, dass keinem Menschen zu trauen war. Jedenfalls nicht, wenn es sich um einen vermeintlich ehrbaren Kaufmann oder sonstigen hohen Herrn handelte.
    »Es muss sich natürlich günstig in die Privilegien einfügen, die Barbarossa uns einst zusicherte. Darüber hinaus sollte es ein Passus sein, der aufs beste die Aufgaben des Rates erfüllt. Dazu gehört, das Stadtrecht zu ergänzen und zu entwickeln zum Wohle aller Bürger, die in Lübeck ansässig sind.«
    Esther schwirrte der Kopf. Sie wartete ab, den Federkiel in der Hand.
    »Lasst mich den letzten Satz sehen.« Er nahm den Bogen auf. »Alle getreuen Kaufleute sollen außerdem, wenn sie um ihrer Geschäfte willen über Land oder zur See in die Stadt kommen«, las er, »stets unbehelligt kommen und gefahrlos abreisen, wenn sie nur die gehörige Rechtsabgabe zahlen, zu der sie verpflichtet sind.« Er ließ das Pergament zurück auf das Pult gleiten. »Ihr habt die Stelle klug gewählt«, meinte er. »Schreibt dieses: Außerdem befreien wir die genannten Lübecker Bürger, wenn sie nach England fahren … Habt Ihr das?«
    Hastig tauchte sie den Federkiel wieder und wieder in die Tinte. »Ja, Herr. Nach England fahren …«
    »… von der sehr missbräuchlichen und belastenden Abgabe, die, wie es heißt, die Leute von Köln und Tiel und deren Genossen gegen sie ausgeheckt haben.«
    Esther schrieb Buchstabe um Buchstabe. Sie konnte kaum mehr klar denken, weil die Worte »befreien« und »missbräuchliche Abgabe« in ihrem Kopf tanzten.
    Er brachte den Satz zu Ende, blickte ihr über die Schulter und stellte fest: »Seht nur, wie gut die Länge unseres neuen Absatzes passt! Und nun lest Ihr ihn mir noch einmal vor.«
    Sie nickte, schluckte ihre Freudentränen hinunter und las mit zitternder Stimme: »Außerdem befreien wir die genannten Lübecker Bürger, wenn sie nach England fahren, von der

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