Die unsichtbare Handschrift
wollte mit Gotland Handel treiben, doch hatte er obendrein Pech und verlor ein ganzes Schiff Getreide, das gesunken ist oder von Piraten überfallen wurde. Deshalb war er so verzweifelt.« Eilig fügte sie hinzu: »Trotzdem wäre ihm nie eingefallen, sich diesen Einfluss auf finsteren Wegen zu erschleichen.« Sie holte tief Atem. »Ich war es. Ich ganz allein.«
»Ihr?«, fragte Marold ungläubig. »Wie das? Wollt Ihr mir das wohl verraten?«
Sie wollte im Grunde nicht, aber nun hatte sie mit der Wahrheit begonnen und würde auch dabei bleiben. Wie sollte sie auf Gottes Hilfe hoffen dürfen, wenn sie weiter log?
»Ich wollte ihm so gerne helfen. Dieser Wunsch war stärker als die Vernunft, stärker als alles andere. Wenn seine Geschäfte nur wieder besser liefen, dann hätten wir heiraten können, versteht Ihr? Das wünsche ich mir doch so sehr. Und es hat so geschmerzt, Vitus Tag für Tag voller Sorgen zu sehen.« Eifrig ergänzte sie: »Außerdem dachte ich, dass es nicht gerecht ist, wenn die Lübecker eine Abgabe zu zahlen haben, von der die Leute aus Köln und Tiel befreit sind. Sie betreiben schließlich das gleiche Geschäft.« Leiser sagte sie: »Ich bin nur eine Frau und weiß nichts von diesen Dingen. Doch fiel mir die ganze abscheuliche Geschichte leichter, wenn ich glauben konnte, damit auch ein wenig für Gerechtigkeit zu sorgen.« Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals festgesetzt, der sie für eine Weile daran hinderte, weiterzusprechen. Also schwieg sie und wagte nicht, ihn anzusehen.
»Ihr wollt mir also wahrhaftig weismachen, Ihr habt eine eigene Abschrift angefertigt?«
Sie nickte und räusperte sich. »Ja«, brachte sie heiser heraus.
»Das glaube ich nicht.«
Wie absurd diese Situation doch war. Ihr ganzes Leben lang hatte sie achtgegeben, dass nur ja keiner etwas von ihren Schreibkünsten erfuhr, und nun war sie dabei, Marold genau davon zu überzeugen.
»Es ist aber wahr.« Sie griff in die Tasche in ihrem Kleid und holte die beiden Pergamentrollen hervor. Sie waren ein wenig zerdrückt, aber anscheinend nicht entzweigegangen.
»Was ist das?«
»Weitere Abschriften der Privilegien. Eine stammt aus Feldings Feder, die andere aus der meinen.« Sie warf einen Blick auf die erste. »Hier, diese hat Felding selbst verfasst, um sich für immer und ewig einen Vorteil gegenüber den Lübecker Kaufleuten zu sichern.« Sie reichte sie ihm.
Marold las und schüttelte dabei wieder und wieder den Kopf. »Das passt zu diesem Betrüger«, schimpfte er. »Stets ist er nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht. Was aber noch viel schlimmer ist, er hatte wahrhaftig vor, uns alle zu betrügen. Gerade die Stelle, die Lübeck zur freien Stadt machen sollte, hat er unterschlagen. Dafür soll er büßen!«
Nun fehlte noch die letzte Fassung, die, die sie selbst unter Schweiß und voller Angst auf das Pergament gebracht hatte.
Bevor sie sie ihm reichte, erklärte Esther: »Felding hatte von meinem Vorhaben erfahren, ebenfalls eine Abschrift anzufertigen. Er setzte mich unter Druck, gab mir eine Wachstafel mit dem Wortlaut, den ich zu schreiben hätte.« Sie lachte bitter. »Zwar sagte er mir, es solle ein Handel zwischen uns sein, der beiden nützt, doch war der Vorteil, den die Lübecker Englandfahrer und damit mein Vitus haben sollten, sehr gering. Doch was sollte ich tun? Ich war nicht in der Position zu verhandeln. Er behauptete, dass er mich mag, dass er mir nicht schaden wolle. So hoffte ich, alles würde glimpflich vonstattengehen und Vitus hätte es fortan immerhin ein bisschen leichter, seine Geschäfte zu machen. Und die für Lübeck bedeutsame Passage war doch auch enthalten.« Mit diesen Worten überreichte sie ihm das Pergament und hielt den Atem an. Ihr war nicht wohl, sie fürchtete schlimmste Strafe, doch gleichzeitig war sie auch mit einem Mal ganz ruhig. Die Wahrheit war gesagt. Nun hatte das grauenhafte Lügen und Verheimlichen ein Ende.
Marold starrte auf die Buchstaben. »Das ist doch nicht möglich. Es sieht aus, als hätte ich das verfasst. Wie kann das sein? Doch Teufelswerk?« Er war blass geworden und sah sie jetzt an, als stünde der Leibhaftige vor ihm.
»Nein, kein Teufelswerk, nur ein unerwartetes Zusammentreffen kleiner Begebenheiten.« Und so berichtete Esther auch noch, wie sie ihm damals zu seinem Kontor gefolgt war, um nach Arbeit für ihren Bruder zu fragen. Sie beteuerte, ihn augenblicklich gerufen zu haben, als sie sah, dass ihm etwas aus der Tasche gefallen war, doch
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