Die unsichtbare Handschrift
dem Schauenburger auszuliefern. Das konnte ich nicht zulassen. Ich wusste doch, zu welch grausamen Taten er fähig ist.« Sie erzählte nun die Geschichte von Bille und von dem erbarmungswürdigen Zustand, in dem das Mädchen war. »Jetzt wisst Ihr, warum wir Euch dreckig und zerlumpt aufgesucht haben. Wir fanden für eine Nacht Unterschlupf bei dem Müller. Felding ist uns jedoch gefolgt und hat die Mühle in Brand gesteckt. Wir wussten zu viel von seinen Machenschaften. Wir wussten gar, dass er den armen Reinhardt getötet hat. Darum wollte er uns ebenfalls vor unseren Schöpfer befördern.«
»Ihr bringt wahrhaftig Licht ins Dunkel, wie ich gehofft hatte. Was aber war nun mit dem Pergamentfetzen? Mir schien, Ihr wart recht erschrocken, als Felding ihn mir reichte?«
»Ja, Herr, das war ich.« Sie dachte an den Moment, als sie in Feldings Gegenwart zum Federkiel gegriffen hatte. »Ich musste meinen Bruder schützen und auch Vitus um jeden Preis aus der Geschichte heraushalten. Mir fiel keine andere Möglichkeit ein, als alles auf mich ganz allein zu nehmen, was ja auch beinahe der Wahrheit entsprach. Nur musste ich dazu natürlich gestehen, dass ich schreiben kann. Er glaubte mir nicht. Was blieb mir anderes übrig, als ihm mein Geständnis aufzuschreiben. Vor seinen Augen.«
»Aber der Fetzen war leer.«
Sie lächelte. »Das hat mich auch überrascht. Jedenfalls für einen kurzen Moment. Dann ist mir wieder eingefallen, welche Tinte ich verwendet hatte.« Sie machte eine Pause. Wie sollte sie ihm das nur erklären? Immerhin hatten Vitus und sie anfänglich vorgehabt, ihn mit Tinte, die von alleine verschwinden sollte, an der Nase herumzuführen. Nun, jede winzige Einzelheit der Geschichte mochte ihn vielleicht gar nicht interessieren, und man musste es mit der Wahrheit doch auch nicht gleich übertreiben. »Ihr müsst wissen, dass ich kurz vor Feldings Eintreffen im Skriptorium frische Tinte gemischt hatte. Nur ist sie mir nicht gelungen. Ich habe die Anteile der Zutaten nicht gut getroffen, so dass die Tinte zwar zunächst kräftig braun aussah, aber mit jedem Atemzug mehr verblasste. In meiner Not war ich wohl so verwirrt, dass ich ausgerechnet die benutzte, um meine Schriftprobe abzuliefern.« Sie senkte den Blick.
Für einen Wimpernschlag herrschte absolute Stille in Marolds Kontor. Dann begann er lauthals zu lachen.
Nach einer Weile sagte er: »Nun, meine liebe Esther aus Schleswig, ich danke Euch, dass Ihr mir alles erzählt habt. Auch danke ich Euch, dass Ihr mir die Abschrift gebracht habt. Ich selbst werde morgen in aller Frühe mit der Gesandtschaft aufbrechen und nach Parma reiten. Von Anfang an hatte ich vor, die Abschrift selbst zu verfassen. So ist es nun geschehen. Wer hätte das gedacht?«
Esther legte die Stirn in Falten. »Verzeiht, ehrenwerter Herr Marold, ich verstehe nicht recht. Ich dachte, Ihr wolltet die Abschrift senden, die Magnus geschrieben hat. Ihr erinnert Euch, das war das Pergament, das Felding bei sich trug.«
»Ja, ich erinnere mich nur zu gut, wenn es auch nicht einfach ist, nicht durcheinanderzugeraten.«
Er machte auf sie einen so gelassenen, ja, beinahe unbeschwerten Eindruck, wie es den ganzen Morgen noch nicht der Fall gewesen war.
»Ihr habt recht, das Schriftstück von diesem Magnus ist makellos und entspricht genau den Wünschen des Stadtrates.« Er neigte leicht den Kopf und sah sie freundlich an. »Doch auch Eure Fassung hat große Vorzüge. Sie ist in meiner Handschrift verfasst. Ich habe mich von diesem elenden Felding ins Bockshorn jagen lassen. Dabei gab es keinen Grund, sich hinter einem anderen Schreiber zu verstecken. Die Abschrift erfolgt zum Wohl und nach dem Willen der Lübecker. Warum also sollte sie nicht meine Handschrift tragen? Durch Euer Schriftstück ist die Freiheit der Lübecker gesichert. Was spricht dagegen, es für die Reise zu versiegeln?« Er gab selbst die Antwort: »Allein dieser Passus mit den Englandfahrern ist mir nicht recht.«
»Natürlich nicht«, sagte sie leise.
»Unglücklicherweise habt Ihr ihn nicht mit Eurer wunderlichen Tinte verfasst, die von selbst verschwindet.« Er lachte.
»Nein, Herr, das habe ich nicht.« Esther war nicht nach Lachen zumute.
»Wir werden also den herkömmlichen Weg beschreiten müssen.« Er holte aus einem Fach in seinem Pult ein scharfes kleines Messer und legte es auf Esthers Abschrift. »Setzt Euch!«
»Jawohl, Herr.« Sie zögerte, sah sich nach einem einfachen Schemel um, doch da klopfte
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