Die unsichtbare Handschrift
beruhigen. Mechthild war zusammengezuckt und flüsterte unverständlich vor sich hin. »Verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur … Du sprichst von mir, nicht wahr? Woher kannst du nur wissen …?«
Die Alte reagierte nicht auf ihre Worte. Sie hatte den Kopf gesenkt und wippte von den Zehen auf die Fersen und wieder auf die Zehen. Immerfort ging es so. Den linken Fuß knickte sie dabei eigentümlich nach innen. Ein Bursche lief an ihnen vorüber und verzog die Nase, eine Magd schleppte ein Bündel Reisig und spuckte vor der Alten aus. Die einfachen Leute waren froh, jemanden in der Stadt zu wissen, der es noch schlechter getroffen hatte als sie, auf den selbst sie hinabsehen konnten. In der Ferne hörte Esther Hufgetrappel.
»Was hast du nur gegen mich?«, wollte sie wissen. »Ich habe dir nichts getan, und ich werde dir auch ganz bestimmt nichts antun. Wenn du willst, bringe ich dich zu der Gräfin, zu deiner Heilwig. Ich weiß, wo sie sich aufhält.«
Immerhin, das Gemurmel hörte auf. Also nahm sie wahr, was Esther sagte. Das Schlagen der Hufe auf dem sandigen Boden wurde immer lauter. Ein Fuhrwerk kam die Breite Straße herunter. Nicht mehr lange, dann würde es hier sein. Wie immer stand Mechthild mitten auf der Gasse. Wenn sie nicht zur Seite trat, würde ein Unglück geschehen.
»Es kommt ein Fuhrwerk die Straße herunter. Geh zur Seite. Die Gäule sind schnell und scheinen mir sehr viel kräftiger zu sein als du.« Sie rührte sich nicht vom Fleck. Viel Zeit blieb nicht mehr. »Hör zu, du musst mir nicht glauben und auch nirgends mit mir hingehen. Aber du hörst doch selbst, dass da ein Wagen auf dich zuhält. Und du verstehst meine Worte, das weiß ich. Also geh bitte aus dem Weg, bevor es zu spät ist.« Es nützte nichts, sie würde diese sturköpfige Person anfassen und auf die Seite ziehen müssen. Gerade wollte sie zupacken, als Mechthild zu reden begann. Etwas hatte sich verändert. Noch immer nuschelte sie in ihrer merkwürdigen Art, so dass sich Esther anstrengen musste, sie zu verstehen, allerdings murmelte sie nicht mehr vor sich hin, sondern sprach Esther an.
Sie legte den Kopf schief und sagte: »Mechthild weiß alles über dich. Mechthild wird es Heilwig sagen, alles sagen.«
Ein rascher Blick auf das Fuhrwerk, das im nächsten Moment heran sein würde und seine Geschwindigkeit nicht eben drosselte.
»Tu, was du tun musst«, rief Esther, packte Mechthilds Ellbogen und zerrte sie zur nächsten Hauswand. Im gleichen Atemzug spürte sie den Windstoß, der von den vorübereilenden Pferden und dem Wagen hervorgebracht wurde. »Mann in de Tünn, das wäre um ein Haar schiefgegangen«, keuchte sie. Die kleine Frau neben ihr stützte sich an der rauhen Holzfassade und hielt ihren linken Fuß in der Luft. Sie hatte ihn wahrscheinlich mit voller Kraft aufgesetzt, weil alles so schnell hatte gehen müssen, und hatte nun noch mehr Schmerzen als zuvor. Ihr Gesicht war dennoch seltsam entspannt.
»Du ein gutes Weib«, wisperte sie und klang überrascht. »Bringst mich zu meiner Heilwig?«
Der Gang in die Fleischhauerstraße zu Vitus’ Haus war Esther wie eine Ewigkeit erschienen. Mechthild hatte sich nicht berühren lassen, sondern war eisern ohne ihre Hilfe Schritt um Schritt gehumpelt. Zuerst war Esther schrecklich ungeduldig gewesen, weil sie doch endlich Vitus die wunderbaren Neuigkeiten berichten wollte, mit der Zeit besann sie sich jedoch und freute sich an der Sonne und der Wärme auf ihrem Gesicht. Leise und freundlich erzählte sie Mechthild, dass sie nicht direkt zu Heilwig gehen konnten, weil sie zunächst ihren Verlobten aufsuchen musste, wie es vereinbart war. Aber gleich darauf, so versicherte sie ihr immer wieder, würden sie zu Heilwig aufbrechen.
Endlich standen sie vor dem Kaufmannshaus.
»Nicht zurück«, begann Mechthild mit einem Mal wieder mit ihrem Singsang. »Nie wieder zurück! Nicht mehr weh tun, bitte nicht weh tun.« Dabei wandte sie ihr Antlitz dem Ende der Gasse zu. Esther verstand.
»Du willst nicht zurück in das Johanniskloster, habe ich recht? Keine Angst, ich verspreche dir, dass ich dich nicht dorthin bringe.« Woher konnte sie nur so genau wissen, wo sie sich befand? Magnus hatte ganz recht, sie sah offenbar sehr viel mehr als alle anderen Menschen. »Wir gehen nicht weiter«, beruhigte Esther sie. »In diesem Haus lebt mein Bräutigam. Er wird uns zu Heilwig bringen.«
Die Tür flog auf. Vitus hatte augenscheinlich am Fenster gesessen
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