Die unsichtbare Handschrift
Hölzchen und auch jeden achtlos fortgeworfenen Knochen unter den Sohlen. Es machte ihr nichts aus. Sie war nicht nur all ihre Sorgen los, sondern war von Marold obendrein reich beschenkt worden. Selbst wenn Vitus und sie ihr Vorhaben wahr gemacht und einen Englandfahrer-Passus in eine Abschrift geschmuggelt hätten, wäre dieser niemals so deutlich gewesen, wie von Marold diktiert. Doch was noch mehr ins Gewicht fiel – wie hätten sie ihre Fassung in das Futteral bringen sollen, damit der Bote es an sich nahm und dem Kaiser aushändigte? Es wäre nicht gelungen, niemals. Jetzt war alles ganz anders. Marold höchstselbst würde das Schriftstück nach Parma bringen und Friedrich II . übergeben. Er kannte dessen Geschichte und war bereit, es als sein Werk abzuliefern. Esther würde nicht als Verfasserin ermittelt und dafür zur Verantwortung gezogen werden. Und auch Kaspar und Vitus waren sicher. Vitus! Sie hatten vereinbart, sich in seinem Haus zu treffen, wenn er mit Magnus Felding den Häschern übergeben hatte und die Unterhaltung zwischen ihr und Marold beendet war. Er würde Augen machen, wenn sie ihm die Neuigkeiten berichtete. Bei dem Gedanken daran machte ihr Herz einen weiteren Freudenhüpfer, und sie strahlte über das ganze Gesicht.
»Nicht weh tun, mir weh tun, nicht wieder weh tun, bitte.«
Esther blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah das alte Weib im allerletzten Augenblick. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte es über den Haufen gerannt. Ihr stockte der Atem. Es war Mechthild, die Amme der Gräfin Heilwig, von der Magnus ihr auf dem Weg nach Lübeck erzählt hatte. Obwohl sie Esther den Rücken zuwandte, gab es keinen Zweifel, dass sie es war. Sie trug ein nahezu sauberes Kleid und eine blütenweiße Haube, stand aber wie bei ihren vorigen Begegnungen barfuß im Unrat der Sandstraße.
Unablässig murmelte sie vor sich hin: »Nicht zurück, will nicht, nicht zurück, nicht weh tun, bitte nicht …«
Hatte Magnus nicht gesagt, sie sei im Johanniskloster untergekommen? Esther schluckte. Ihr war nicht wohl bei der Vorstellung, die Alte anzusprechen. Auf der anderen Seite, was sollte schon geschehen? Nun wusste sie ja, mit wem sie es zu tun hatte. Was Magnus ihr über diese Mechthild mitgeteilt hatte, war nicht eben angsteinflößend gewesen. Nun gut, auch er fürchtete ihren bösen Blick, doch hielt er sie im Grunde für eine bedauernswerte Person, der man in ihrem Leben übel mitgespielt hatte. Sie fasste sich ein Herz.
»Verzeih, bist du nicht Mechthild, die Amme der Heilwig von der Lippe?« Mit Absicht benutzte sie den Geburtsnamen der Gräfin, den auch Magnus noch zu verwenden pflegte. Sie wusste, wie Mechthild zum Schauenburger stand, und hielt es für klug, seinen Namen lieber nicht in den Mund zu nehmen.
Der krumme dürre Körper erstarrte, das Wispern erstarb. Esther ging langsam um sie herum.
Als sie vor ihr stand, sagte sie: »Mein Name ist Esther. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich will dir gewiss nicht weh tun.«
Menschen eilten an ihnen vorbei, ein Junge und ein Mädchen kamen aus einem Haus und stürmten ohne zu zögern auf Mechthild los. »Da ist sie! Wo warst du denn so lange, du hässliche Gans«, schrien sie durcheinander. Es hatte den Anschein, als würden sie sich freuen, endlich wieder ihren Schabernack mit der Alten treiben zu können, die für einige Tage verschwunden war. Mitten in ihrem Lauf warfen sie Esther einen Blick zu, wurden langsamer, wechselten die Richtung und tobten davon. Ob sie das Elend und die echte Not der Alten gespürt hatten? Nein, wahrscheinlich hatten sie eher Angst bekommen und so die Lust auf ihre Späßchen verloren. Schließlich sah Esther mit dem Ruß auf der Haut und den zerzausten Haaren aus wie der leibhaftige Feuerteufel.
»Du bist Mechthild, nicht wahr?«, versuchte sie es erneut.
Ganz langsam hob diese den Kopf. Esther lief es kalt den Rücken hinunter. An diese weißen Milch-Augen würde sie sich nie gewöhnen können. Dennoch hielt sie ihnen tapfer stand.
»Das Tintenweib«, zischte Mechthild. »Es darf nicht leben, macht alles kaputt, nicht leben.« Diese ohnehin schon eigenartig knarrende Stimme hatte einen Tonfall, der in Esthers Ohren wie ein Fluch klang. Sie bekam eine Gänsehaut.
»Nein, hör doch. Du kannst mir trauen.«
»Böses Weib, das Tintenweib, kann alles zunichtemachen. Das Weib mit der Feder darf nicht leben!«
»Sei doch still!«, fuhr Esther sie an. Ihr Herz klopfte. Sie musste sich
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