Die unsichtbare Handschrift
ziemlich offensichtlich, dass er den beiden noch ein wenig Zeit allein gönnen wollte. Sie spürte ein wohlbekanntes Kitzeln in ihrem Bauch. Würde Vitus die Gelegenheit nutzen, um sie zu küssen oder so zu berühren, wie er es neulich getan hatte? Es hatte nicht den Anschein.
»Ich habe mich unter den Kaufleuten umgehört. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Rat das Barbarossa-Privileg zum Wohle der Stadt erweitern und dem Kaiser dann vorlegen will. Es scheint niemandem etwas auszumachen, dass es sich – streng genommen – um Betrug handelt.«
Esther hatte die Angelegenheit schon beinahe vergessen. Sie verstand nichts von diesen Dingen und hatte keine Lust, mit Vitus darüber zu sprechen. Was immer sie sagte, konnte sie in seinen Augen töricht erscheinen lassen.
»Ich habe viel darüber nachgedacht.« Er stellte den Becher auf den Tisch und stützte seine Ellbogen auf. Esther erkannte, dass dieses Thema ihn mehr beschäftigte, als sie vermutet hatte. »Es ist ein kühner Plan«, verkündete er. »Nicht ganz sauber, aber kühn. Ich habe mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich Einfluss auf die zusätzlichen Passagen hätte. Stell dir das nur einmal vor!«
Nun wurde sie hellhörig. »Du meinst, du könntest dir wünschen, was immer du willst, und der Kaiser würde es dir genehmigen?«
»So ungefähr, ja.«
Sie überlegte. »Was würdest du verlangen? Am besten einen Titel. Würde er dich in den Adelsstand erheben, müsste er dir auch Ländereien geben. Dann wärst du ein Lehnsherr und müsstest für das Getreide, das du verkaufst, nichts bezahlen. Du wärst reich, und wir könnten heiraten.«
Er lachte auf, seine Augen glänzten. »Das wäre wunderbar.« Er streckte eine Hand über den Tisch und legte sie auf ihre. »Aber so meine ich das nicht.«
Sie sah ihn fragend an.
»Nein, ich meine, wenn ich bestimmen könnte, dass keine Zölle mehr auf Warenlieferungen nach England zu zahlen sind, das würde mir schon genügen. Wie viel größer wäre mein Gewinn! Oder wenn der Kaiser wenigstens unterzeichnen würde, dass Kaufleute aus Lübeck denen aus Köln oder Tiel gleichgestellt wären. Dann liefen die Geschäfte wieder besser, und ich müsste mir nicht immerfort von den Engländern sagen lassen, dass sie bessere Angebote haben.«
Das leuchtete ihr ein. »Wenn du sagst, dass der Rat keinen Hehl aus seinen Plänen macht, könnte dann nicht eine Abordnung der Kaufmannschaften eine Ratssitzung besuchen und ihre Wünsche für die neuen Absätze und Rechte äußern?«
»Wo denkst du hin? Überlege nur einmal, wie viele unterschiedliche Vorschläge da zusammenkämen. Nein, nicht einmal innerhalb einer Kaufmannsgilde würde man sich vermutlich einigen können. Jeder hätte nur seine eigenen Interessen im Sinn. Und wenn am Ende das Schreiben für den Kaiser viele Pergamentrollen umfassen würde, dann flöge der Schwindel auf, meinst du nicht?«
»Aber das ist nicht gerecht. Der Rat entscheidet, was gut für Lübeck ist. Schön. Dann müsste er doch auch erkennen, dass es nicht gut ist, wenn seine Kaufleute schlechter gestellt sind als die anderer Städte.«
»Das wissen die Ratsmänner durchaus. Nur liegt es nicht in ihrem Ermessen, das zu ändern.«
»Aber es liegt in ihrem Ermessen, andere Privilegien anzupassen?«
»Das ist etwas anderes«, murmelte er mit wenig Überzeugung. Sie konnte sehen, dass es in seinem Kopf zu arbeiten begonnen hatte. »Ein solcher Passus wäre phantastisch«, flüsterte er schließlich. »Ich wäre meine größte Sorge los, und wir könnten wahrhaftig endlich heiraten.«
»Kennst du denn nicht einen Ratsmann gut, den du bitten könntest? Es wäre doch nicht nur zu deinem Vorteil«, beharrte sie.
»Nein, Esther, das kann ich nicht tun.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wenn Kaspar nur Ratsschreiber wäre. Oder noch besser Sekretär von Kaiser Friedrich. Dann könnte er das Werk verfassen und einen Passus nach meinem Geschmack einfügen.«
»Du meinst heimlich? Das wäre Sünde, Vitus.«
»Nicht mehr, als es jetzt auch Sünde ist, Esther. Sagtest du nicht selbst, es sei nicht gerecht, dass die Kaufleute keinen Einfluss haben, obwohl ihr Vorteil auch einen Vorteil für die Stadt bedeuten kann?«
»Nun ja, aber ist es nicht Politik, wenn die Ratsmänner das Schreiben ein wenig verändern? Wenn wir es tun, ist es ein Vergehen. Oder nicht?«
Sie war verunsichert.
»Es sind ohnehin nur Gedankenspielereien. Kaspar ist kein Ratsschreiber. Und wenn es Marold ist, der die Feder
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