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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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stahl ihr augenblicklich ihre ganze Aufmerksamkeit. Kein Zweifel, es handelte sich um ein Stückchen Papier. Reinhardt hatte einmal für einen reichen Kaufmann gearbeitet, der mit Genua Handel trieb. Von dort hatte dieser damals einige Bogen dieses neuartigen Beschreibstoffs mitgebracht, um unter anderem sein Vermächtnis darauf festhalten zu lassen. So war Esther in den ungewöhnlichen Genuss gekommen, das Material, von dem natürlich jeder Schreiber schon viel gehört hatte, ansehen und fühlen zu dürfen. Hier und da gab es immer jemanden, der Papier herstellte und wohlhabenden Patriziern oder Adligen anbot. Doch in großen Mengen stand es nicht zur Verfügung. In dem kleinen Skriptorium in der Depenau hatte Esther nur dieses eine Mal Papier zu Gesicht bekommen, danach nie wieder. Der Fetzen, den sie jetzt in der Hand hielt, war daher etwas ganz Besonderes für sie. Der Zettel war zweimal gefaltet. Seine fransig-faserigen Kanten verrieten, dass er einmal Teil eines größeren Bogens gewesen und abgerissen worden war. Esther bemerkte, dass sie noch immer am Fuße der Stufen direkt vor dem Eingang zu Marolds Kontor verharrte. Was, wenn die Tür aufging und jemand ins Freie trat? Er würde sie womöglich umrennen. Ganz sicher würde sich aber ein jeder fragen, was sie dort zu schaffen hatte. Und man würde glauben, dass sie etwas an sich genommen hatte, das ihr nicht gehörte. Sie umschloss das Stück Papier mit der rechten Hand, sah sich gehetzt um und lief in Richtung Mühlenbrücke davon. Was sollte sie jetzt nur anfangen? Was, wenn doch jemand sie beobachtet hatte? Sie würde rasch ein geschütztes Plätzchen aufsuchen, einen Blick auf den Zettel werfen und ihn dann zu Marold bringen. Sie schämte sich ihrer Neugier ein wenig, andererseits sah sie für niemanden einen Nachteil darin, wenn sie die Gelegenheit nutzte, diesen seltenen Stoff zu betrachten, bevor sie ihn seinem Besitzer zurückbrachte. Am besten würde sein, sie lief nach Hause. In der kleinen Holzhütte war sie ungestört.
     
    Mit klopfendem Herzen hockte sie sich auf den einfachen Stuhl, auf dem Vitus am Abend zuvor gesessen hatte, und faltete den Zettel auseinander. Sie hätte sich gern näher an das offene Fenster gesetzt, denn nachdem sie draußen im grellen Sonnenschein gewesen war, erschien es ihr im Innern der Hütte sehr dunkel. Das wagte sie jedoch nicht, da sie fürchtete, jemand könnte sie mit einem Stück Papier in der Hand erwischen. Vor allem durfte sie nicht riskieren, dass jemand sie beim Lesen beobachtete.
    Der Fetzen war von beiden Seiten beschrieben. Marold war reich genug, um so große Mengen Papier zu besitzen, dass er es nicht nur für besondere Anlässe aufbewahrte, vermutete sie. Gleichzeitig lag es ihm anscheinend dennoch fern, den kostbaren Beschreibstoff zu verschwenden, was auf einen allgemein besonnenen Umgang mit jeglichem Hab und Gut, auf Geiz oder darauf deuten konnte, dass er doch nicht so gut betucht war, wie sie meinte. Auf einer Seite las sie: »Senator B. zur dreizehnten Stunde.« Sie drehte den Zettel um und erkannte, dass Marold offenbar ein altes Schreiben, das er einmal verfasst, nun zum Notieren einer Verabredung verwendet hatte. Es war gut möglich, dass ihm in dem ursprünglichen Brief ein Fehler unterlaufen oder ihm eingefallen war, dass er noch etwas ergänzen wollte. So hatte er ihn nicht aus der Hand gegeben, sondern ihn noch einmal neu verfasst und die Rückseite der ersten Ausführung für rasche Notizen gebraucht. Ja, so war es plausibel. Ihr Fund war keineswegs von Bedeutung, wurde ihr klar, und sie war enttäuscht. Er wäre ihr nicht freundlich gesonnen, wenn sie ihm diesen Wisch zurückbrachte. Wahrscheinlich lachte er sie gar aus. Auf der anderen Seite konnte die Verabredung mit diesem Senator, dessen Name er nicht ausgeschrieben hatte, noch bevorstehen. Dann wäre er gewiss doch froh, daran erinnert zu werden. Außerdem musste er denken, dass sie nicht lesen konnte. Sie konnte also gar nicht wissen, ob das Papier von Wert für ihn war oder nicht. Wenn sie ihm das vor Augen führte, musste er es ihr als gute Tat anerkennen, dass sie ihm wiederbrachte, was er verloren hatte. Sie hielt das wunderbare Material mit der Linken und streichelte mit dem Daumen der Rechten darüber. Auch die Ränder betastete sie behutsam. Wie weich sie waren. Und sie sahen beinahe aus, als wüchsen winzige Haare aus dem Innern, als bekäme das Papier ein hauchfeines Fell, wo man es grob zerrissen hatte. Sie lächelte

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