Die unsichtbare Handschrift
Anblick der ersten Blüten des Jahres ihre Aufmerksamkeit beansprucht. Nun aber betrachtete sie ihn genauer, während er näher kam und vor ihr stehen blieb. Er hatte eine stattliche Figur mit breiten Schultern und kräftigen Händen. Sein Gesicht, das damals so ernst gewesen war, sah jetzt sehr freundlich aus. Sein blondes Haar leuchtete in der Sonne, ein blonder Bart zierte seine Oberlippe.
»Ihr hättet den Burschen auch ohne mein Zutun aus dem Wasser gezogen. Habt Ihr gehört, wie es ihm geht?« Nun blickte er wieder ernst drein.
»Er hatte Fieber, aber das hat es nicht lange bei ihm ausgehalten, sondern bald wieder Reißaus genommen. Jetzt hustet er wohl noch. Ich hörte, er hat eine Gesundheit wie ein Ross.«
»Hoffentlich hat seine Mutter ihm kräftig den Hintern versohlt. Ihr hättet Euch den Tod holen können wegen dieses Balgs.« Er schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. Mit einem Mal verneigte er sich ein wenig ungelenk. »Mein Name ist Norwid. Ich bin der Sohn des Müllers.« Er machte eine Kopfbewegung, mit der er in Richtung einer Mühle zeigte, die ein gutes Stück entfernt zu sehen war.
»Ich bin Esther«, gab sie zurück, »Schwester des Schreibers Kaspar, der gerade bei Baumeister Gebhardt in Diensten ist.«
Einen Moment schwiegen beide. Dann fragte Norwid: »Was tut Ihr hier draußen?«
»Ich hoffe, einem Bauern ein paar Würste abkaufen zu können. Die Fleischhauer in der Stadt sind zu teuer. Es lässt sich nicht sonderlich viel verdienen als Schreiber, müsst Ihr wissen.«
»Unweit unserer Mühle gibt es einen Hofbauern, der ein Stückchen Wiesenland bewirtschaftet. Er hat ein wenig Vieh und gibt gerne etwas Fleisch für einen guten Preis her, wenn er sich so den Weg in die Stadt spart. Falls es Euch nicht zu weit ist, fragt dort nach.«
»Danke, das werde ich tun.« Sie blickte zu der Mühle. Nein, der Gang dorthin war ihr gewiss nicht zu weit, schon gar nicht bei solch schönem Wetter.
»Dann solltet Ihr nicht versäumen, meinem Vater in der Mühle einen Besuch abzustatten. Er war sehr angetan von Eurem beherzten Eingreifen.« Er lächelte sie an. »Er wird es sich nicht nehmen lassen, Euch ein kleines Säckchen Mehl zu schenken.«
»Aber das geht doch nicht.«
»Warum nicht? Vielleicht brauchen wir mal einen Schreiber. Dann würde ich Euch an die Großzügigkeit meines Vaters erinnern.«
Sie lachte. »Einverstanden!«
»Also dann«, sagte er, »passt auf Euch auf!«
Esther tat, was er ihr geraten hatte, und war bald darauf mit vier Würsten, die zwar ein wenig kümmerlich, dafür aber äußerst günstig zu haben waren, zwei Schweinepfoten und einem kleinen Sack Mehl auf dem Heimweg. Das war wahrhaftig ein guter Tag. Und für den Abend hatte sich Vitus angesagt. Beschwingt schritt sie auf die Stadtmauer zu.
Sie nahm den Weg über die Mühlenbrücke. Plötzlich hörte sie Vitus’ Stimme.
»Wohin des Weges, schöne Frau?«
Sie ging zum Geländer und blickte vorsichtig nach unten auf das Wasser. Dort entdeckte sie ihn in einem kleinen hölzernen Boot.
»Was tust du da?«, rief sie ihm fröhlich zu.
»Habe ich dir nicht erzählt, dass ich mir den Kahn des Hafenmeisters borge, wann immer sich die Gelegenheit bietet? Damit lassen sich Getreidesäcke bequemer von einem Ort an einen anderen bringen als auf einem Karren oder gar auf dem Buckel.«
»Doch, ich erinnere mich. Ich fragte dich damals, warum du diese Arbeit nicht von Tagelöhnern erledigen lässt.«
»Worauf ich dir erklärt habe, dass ich das durchaus meistens tue«, rief er hinauf.
»Dass es dir aber so viel Freude macht, ein Boot zu rudern«, beendete sie den Satz für ihn. Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was daran eine Freude sein soll.« Skeptisch beäugte sie den Nachen, der so aussah, als würde schon der kleinste Windhauch ihn zum Kentern bringen.
»Das hast du damals auch schon gesagt.« Indem er die Ruder geschickt einzusetzen vermochte, gelang es ihm, die Nussschale an nahezu derselben Stelle zu halten, als könnte die Strömung ihr nichts anhaben. »Komm herunter ans Ufer«, rief er ihr zu. »Du hast jetzt die einmalige Möglichkeit, genau diese Freude am eigenen Leib zu spüren.«
»Was meinst du damit?« Es war keine Kunst, sich diese Frage selbst zu beantworten, nur wollte sie einfach nicht wahrhaben, dass er sie zu einer Bootsfahrt einlud.
»Komm schon, sei kein Hasenfuß! Du hast einen Jungen aus reißenden Fluten gerettet, da wirst du
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