Die unsichtbare Handschrift
zueinanderpassten und am Ende nicht nur eine dicke, solide, sondern auch eine völlig gerade Wand ergaben. Hier waren wahrhaftig Künstler am Werke. Drei rotznäsige Kinder mit schmutzigen Gesichtern und schäbigen Fetzen am Leib liefen ihr krakeelend in den Weg, tanzten einmal um sie herum und verschwanden im Gewimmel der Menschen, die etwas an der Baustelle anzuliefern oder dort Sonstiges zu schaffen hatten. Sie warf einen raschen Blick auf schwitzende Zimmerleute und Steinmetze und auf die Windenknechte, die wohl am härtesten schuften mussten, damit schwere Lasten mit Hilfe eines riesigen hölzernen Rads in die Höhe gezogen werden konnten. Es knarrte und quietschte bedrohlich. Esther hätte sich liebend gern die Ohren zugehalten, doch sie musste nach Kaspar fragen.
Sie erwischte ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er sich selbst auf den Weg machte, um seine vergessenen Gänsekiele zu holen. Als sie kurz darauf die Baustelle wieder verlassen wollte, entdeckte sie Domherr Marold. Sie verlangsamte ihre Schritte. Sollte sie die Gelegenheit dieses Mal beim Schopfe packen, um nach einer festen Anstellung für ihren Bruder zu fragen? Dombaumeister Gebhardt entlohnte Kaspar nicht so übel, aber etwas Festes, Dauerhaftes wäre die bessere Wahl. Ihr kamen Vitus’ Worte in den Sinn. Wenn Kaspar Ratsschreiber wäre, dann könnte er einen segensreichen Passus in das Dokument schmuggeln, das die Ratssendboten schon bald zum Kaiser bringen würden. Wenn es Marold war, der dieses Dokument aufsetzte, dann wäre es für einen seiner Schreiber gewiss ein Leichtes, den Bogen in einem unbeaufsichtigten Moment zu entwenden, ein wenig zu ergänzen und wieder an seinen Platz zu legen.
»He, Weib, was stehst du da im Weg herum?«, rief ein Holzknecht erbost, der mit einem anderen Knecht einen Balken herbeischleppte.
Sie raffte ihren Rock und ging eilig in die Richtung, in die Marold verschwunden war. Sie tadelte sich selbst für ihre sündigen Gedanken. Niemals könnte sie von Kaspar verlangen, dass er einen Betrug beginge, wenn ihm das Glück zuteilwurde, eine Anstellung bei dem Domherrn zu ergattern. Nicht auszudenken, wenn man ihn erwischte. Sie sah Marold mit wehendem Mantel um eine Ecke verschwinden. Ob er sich wieder mit dem Mann treffen würde, mit dem sie ihn neulich belauscht hatte? Esther konnte nicht anders, sie musste es herausfinden. Sie schaute sich um, ob sie nur ja niemand beobachtete. Schon war sie an dem Mauervorsprung angelangt, an dem gerade noch der pelzbesetzte Saum seines Mantels zu sehen gewesen war. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Er sputete sich, ein rotes Backsteingebäude zu erreichen, das errichtet worden war, als man den Dombau wieder aufgenommen hatte. Darin befand sich sein Kontor, in dem er seine Geschäfte als Domherr und als Notar abwickelte. Er schien sehr in Eile zu sein. Esther kam kaum hinter ihm her, geschweige denn, dass sie die Möglichkeit gefunden hätte, ihn anzusprechen. Nur noch zwei Schritte trennten ihn von den Stufen zu dem schmucken Gebäude. Sie konnte schlecht rufen, während er ihr den Rücken zudrehte, das wäre unhöflich und ein denkbar unglücklicher Beginn für eine Unterhaltung. Was also konnte sie tun? Mit einem Mal sah sie, wie ein kleiner Gegenstand aus der Tasche seines weiten Mantels fiel.
»Ihr habt etwas verloren, Herr!«, rief sie. Doch sie wagte nicht, aus voller Kehle zu rufen, sondern war viel zu leise gewesen, als dass er sie hätte hören können. Schon schloss sich die Tür hinter ihm. Esther drehte sich um, blickte zurück, ob noch jemand beobachtet hatte, dass ihm etwas aus der Tasche gerutscht war. Aber die Männer auf der Baustelle hatten wahrlich anderes zu tun, und auf die Entfernung hätte wahrscheinlich niemand erkennen können, dass etwas gefallen war. Sie sah nach links und nach rechts. Ein paar Mägde und Burschen waren unterwegs. Eine Mutter zerrte ihre beiden Kinder, jedes an einer Hand, hinter sich her. Die Leute widmeten sich ihrem eigenen Tagewerk. Keiner kümmerte sich um Esther oder um den kleinen Gegenstand, der dort noch immer vor der Treppe auf dem sandigen Boden lag. Sie wusste, was zu tun war. Sie würde Marold bringen, was er verloren hatte. Das wäre ein vortrefflicher Beginn für eine Unterredung, in der sie ihn um eine Stellung für ihren Bruder bitten konnte. Sie fasste sich ein Herz und ging auf das Backsteingebäude zu, bückte sich und wollte geradewegs die Stufen nehmen und anklopfen, doch das, was sie da aufgehoben hatte,
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