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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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weder die Menschen in den Gassen, die mit eingezogenen Köpfen an ihr vorübereilten, noch die dicke Stadtmauer, die sie passierte. Irgendwann kam sie bei dem Hofbauern an, ohne dass sie hätte sagen können, ob ihr auf dem Pfad dorthin jemand begegnet war. Sie hatte Glück. Der Mann hatte gerade ein Schaf geschlachtet und verkaufte ihr Blut, Innereien und ein Stück Fleisch zu einem wirklich guten Preis. Darüber freuen konnte sie sich nicht. Sie versprach, den Krug, in dem das Blut war, zurückzubringen, sammelte große Blätter, mit denen sie das Fleisch und die Innereien vollständig bedecken konnte, und legte zum Schluss einen breiten Fetzen Baumwolle über den Korb. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, lief sie wieder los und stellte irgendwann überrascht fest, dass sie nicht den direkten Weg zur Stadt eingeschlagen hatte, sondern auf die Mühle zuhielt, in der Norwid zu Hause war. Sie wusste nicht, was sie dort wollte. Ihre Füße waren einfach gelaufen, ihre Seele schmerzte und versuchte sich hinter dem zu verstecken, was Esther tat, und ihr Kopf hatte offenbar beschlossen, hierherzukommen. Nur wozu? Sie stand vor der Eingangstür, der Korb baumelte in ihrer Hand. Sie klopfte nicht, stand einfach nur da, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Nach einer guten Weile wurde ihr klar, wo sie war, dass es keinen Sinn hatte, hier herumzustehen und auf ein Wunder zu warten, das nicht geschehen würde. Ebenso wenig klug war es, Norwid mit ihren Sorgen zu belasten. Er hatte genug eigene, und sie konnte ihm ohnehin nicht einmal annähernd erklären, was sie plagte. Also atmete sie einmal tief durch und machte kehrt, um nach Hause zu gehen. Da öffnete sich knarrend die Tür.
    »Esther, du meine Güte, was treibt Ihr hier bei dem Regen? Um ein Haar hätte ich Euch über den Haufen gerannt.« Norwid stand mit einem Holzeimer vor ihr und betrachtete sie aufmerksam.
    »Verzeiht, ich wollte nicht im Weg stehen. Ich wollte gerade gehen.«
    »Aber Ihr wart doch noch gar nicht da. Ich meine, Ihr habt nicht geklopft, wart nicht im Haus. Warum wollt Ihr dann schon wieder fort?«
    Wie sollte sie ihm das nur erklären? Sie konnte doch schlecht sagen, dass sie einfach dort gestanden hatte, ohne selbst zu wissen, warum.
    »Seid Ihr gekommen, um etwas Mehl zu holen?«
    »Nein«, sagte sie rasch. Sie wollte auf keinen Fall, dass er glaubte, sie würde auf ein weiteres Geschenk seines Vaters hoffen.
    »Kommt erst einmal herein«, wies er sie in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldete. »Ich muss Wasser für meine Schwester holen. Aber ich bin sofort wieder bei Euch.« Damit eilte er zum Brunnen und war, ehe sie sich’s versah, wieder zurück.
    Sie sah zu ihm auf, als er mit dem Eimer an ihr vorbeilief, doch sagen konnte sie noch immer nichts. Nie zuvor hatte sie sich so gefühlt wie an diesem Tag. Ihr war, als wäre sie selbst wie das Fleisch in ihrem Korb von Blätterschichten und Stoff bedeckt, so dass nur wenig von der Umwelt zu ihr drang und sie auch kein Zeichen nach draußen senden konnte.
    Norwid war durch eine Tür verschwunden, vermutlich in die Schlafkammer. Sie hörte ihn mit seinem Vater sprechen und ihn bitten, sich eine Weile allein um Bille zu kümmern. Als die Tür sich erneut öffnete und er zurück in die Stube kam, stand sie noch immer da. Zu ihren Füßen hatte sich bereits eine kleine Wasserlache auf dem Lehmboden gebildet.
    »Es ist schön, dass Ihr mir einen Besuch abstattet. Setzt Euch doch.« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, der an einem grob gezimmerten Tisch an der Feuerstelle stand. Als sie dort Platz nehmen wollte, kam er ihr entgegen und nahm ihr den durchnässten Umhang ab. »Ich hänge ihn hier auf, vielleicht trocknet er, bis Ihr Euch wieder auf den Weg macht.«
    Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und bemerkte erst jetzt, wie sehr sie fror. Die Wärme des flackernden Feuers tat ihr gut.
    Norwid rückte sich ebenfalls einen Stuhl zurecht und nahm ihr gegenüber Platz.
    »Darf ich Euch ein Stück Brot anbieten und etwas Wein?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank«, sagte sie leise. Sie war nicht hungrig.
    Er lehnte sich an den Tisch, die Hände unter dem kantigen Kinn gefaltet. »Was ist denn nur los mit Euch?«, fragte er. Seine Stimme war so sanft, in seinem Blick lagen so viel Sorge und Aufmerksamkeit, dass Esther ganz warm ums Herz wurde. Sie kannte ihn doch kaum, und dennoch war ihr, als säße sie bei einem Freund, dem sie sich anvertrauten konnte. Mit einem Mal brachen

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