Die unsichtbare Handschrift
Stellen fleckig rot war. Unter dem linken Fuß gab es eine eitrig entzündete Wunde. Vermutlich war Mechthild in einen scharfen Gegenstand getreten. Wenn Heilwig daran dachte, wie lange sie schon mit dem schmerzenden Schnitt auf dem kalten harten Boden und im Schlamm gestanden hatte, spürte sie hilflose Wut. Es war ein Wunder, dass die alte Frau noch am Leben war. Bevor sie sie endlich in die sauberen Kleider steckte, die die Nonne gebracht hatte, salbte sie sie mit Mandelöl.
»Es kommt aus Italien«, erklärte sie. »Du hast keine Vorstellung, wie weit weg das ist.« Sie lachte. »Aber das Öl ist das Kostbarste, was man bekommen kann. Schon Könige hat man damit gesalbt, und deshalb ist es für dich gerade recht, meine liebe, gute Mechthild.«
Die Antwort war ein Kichern, das Heilwig das Herz aufgehen ließ.
»Sie haben mir gesagt, du seist tot. Ich habe erst kurz vor dem Tode meines Großvaters von ihm erfahren, was sie dir angetan haben. Wie kann ich nur wiedergutmachen, was du erleiden musstest? Ich kann nicht erwarten, dass du mir verzeihst, aber ich bin gekommen, um alles in Ordnung zu bringen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
Mit dem schlichten grauen Leinenkleid, der passenden Haube und den zu einem Knoten gesteckten Haaren darunter sah sie rührend aus. Heilwig rief nach der Ordensfrau, damit jemand kommen und Mechthilds Fuß versorgen würde. Und dann sollte man ihr eine Kammer zuweisen, in der sie bleiben konnte.
»Ihr nehmt sie nicht wieder mit?«
»Vorerst nicht. Ich kümmere mich um eine Bleibe, sei sicher. Aber ein paar Nächte wird sie es auch bei euch gut haben.«
Wenig später war eine Schlafstatt für Mechthild gefunden. Zum ersten Mal seit Jahren lag sie auf einer Matratze aus Stroh, auf der eine dicke Wolldecke lag. Sie zog sich die zweite Decke bis zum Kinn und seufzte selig.
»Ich sehe morgen wieder nach dir«, versprach Heilwig. »Nun schlafe und werde wieder gesund.«
»Gutes Kind«, flüsterte Mechthild.
Heilwig lächelte.
»Gutes Kind, das Gutes tut.«
»Es ist das mindeste.«
»Es ist das Richtige …« Als Heilwig sich bereits umgedreht hatte, hörte sie Mechthild noch flüstern: »… für diese Stadt. Nur nimm dich in Acht vor dem Weib mit der Feder.«
Heilwig drehte sich um. Hatte sie richtig verstanden? »Was sagtest du?«
Mechthild murmelte unverständlich vor sich hin.
»Wolltest du mir noch etwas mitteilen?« Sie war auf der Hut. Eine Warnung aus dem Mund dieser Frau hatte sie immer ernst genommen und dies nie bedauert.
»Das Weib mit der Feder, die Tintenmischerin. Sie ist gefährlich. Sie kann alles zunichtemachen.«
Heilwig bekam eine Gänsehaut. Sie hatte geglaubt, Mechthild spreche davon, wie gut es sei, dass sie sich um sie kümmere. Doch jetzt ging es offenbar um etwas ganz anderes. Um etwas, das sie eigentlich nicht wissen konnte. Eindeutig, sie besaß ihre Fähigkeit noch immer. Sie kannte Heilwigs Plan, wusste, was diese in Lübeck zu schaffen hatte.
»Von wem sprichst du?«, wollte sie wissen.
Mechthild kniff die Augen zusammen und warf ihr einen düsteren Blick zu. »Du musst sie vernichten«, zischte sie. »Sie darf nicht am Leben bleiben.«
[home]
Lübeck, 17 . April 1226 – Magnus
M agnus trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze, die er weit in das schmale Gesicht gezogen hatte. Wie ein Schatten verharrte er vor dem Haus, in dem er vor wenigen Stunden mit der Gräfin die von Felding in Auftrag gegebene Pergamentrolle abgeliefert hatte. Nun wartete er, dass Felding, der mit dem Resultat, wie er sagte, äußerst zufrieden war, obwohl er kaum mehr als einen flüchtigen Blick darauf geworfen hatte, das Haus verließ. Er würde das Schreiben in einem Skriptorium hinterlegen, von wo es am nächsten Morgen die Sendboten abholen sollten, um damit gen Parma zu reiten. Magnus tastete nach der zweiten Pergamentrolle, die er in einem ledernen Beutel unter dem Umhang trug. Diese Version enthielt Passagen, die die Lübecker vom Kaiser nur allzu gern unterschreiben lassen würden, die der Kölner Kaufmann jedoch geflissentlich vergessen hatte. Die Gräfin wusste genau, was Felding und ihr Gatte da hatten unterschlagen wollen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Magnus eine zweite Rolle mit nach Lübeck genommen hatte. Er musste jetzt dafür Sorge tragen, dass genau diese in die Hände des Sendboten gelangte. Seine Finger konnten die runde, längliche Form spüren. Und sie ertasteten gleich daneben eine kleine, schwere und sehr harte Kugel, den Beutel mit
Weitere Kostenlose Bücher