Die unsichtbare Handschrift
Unstimmigkeiten festgestellt haben? Das konnte er sich nicht vorstellen, er selbst hatte jede einzelne Zeile mehrfach gelesen, bevor sie sich auf die Reise nach Lübeck gemacht hatten.
»Und was heißt das jetzt?«, hörte er den Mann mit Namen Reinhardt fragen. »Morgen kommt der Sendbote, dachte ich.«
»Und so ist es auch, mein Bester, so ist es.« Es entstand eine kurze Pause. Dann hörte er Feldings Stimme wieder. »Was, wenn ich Euch jetzt fragte, die Abschrift doch noch anzufertigen, damit sie beim ersten Hahnenschrei bereitliegt? Wärt Ihr dazu in der Lage?«
Magnus hatte keinen Schimmer, was dieser hinterhältige Kaufmann im Schilde führte. Er nahm Geld von Graf Adolf IV . dafür, dass er das von Magnus angefertigte Schriftstück dem Boten übergab. Doch das fiel ihm offenbar gar nicht ein. Warum um alles in der Welt wollte er ein weiteres Schriftstück aufsetzen lassen?
Zwei Männer gingen des Weges, und er musste rasch so tun, als hätte auch er es eilig, zu einem Haus zu gelangen. Als sie vorüber waren, kehrte er umgehend zu seinem Platz unter dem Fenster zurück. Er hörte eben noch, wie dieser Reinhardt Rechtfertigungen stammelte, warum es kaum möglich war, auf die Schnelle für Ersatz zu sorgen. Und es sei ja auch ganz anders ausgemacht gewesen. Felding schien weder überrascht noch besonders ärgerlich darüber zu sein.
»Also schön, ich dachte, es wäre Euch eine Freude, mehr Anteil an diesem bedeutsamen Unterfangen zu haben. Sagt nur später nicht, ich hätte Euch nicht gefragt!«
»Wie geht es denn jetzt weiter?«, wollte Reinhardt wissen. Seine Stimme verriet, dass ihm eine Störung des offenbar längst verabredeten Ablaufs überhaupt nicht zusagte.
»Der Bote kommt beim achten Glockenschlag, daran hat sich nichts geändert. Seid zur siebten Stunde und keinesfalls früher im Skriptorium. Ich werde rechtzeitig zur Stelle sein, um Euch die Pergamentrolle zu übergeben.«
»Woher wollt Ihr die nehmen, wenn doch …?«
Felding schnitt ihm ungeduldig das Wort ab. »Seht Ihr, das ist nun einmal der Unterschied zwischen uns beiden. Ich finde auch ohne Eure Hilfe rasch eine Lösung. Ihr dagegen wüsstet weder ein noch aus.«
Magnus dachte schon, der Kölner würde sich nun verabschieden, doch da hörte er, wie Reinhardt fragte: »Ist es Euch auch gelungen, Esther vor sich selbst zu schützen? Lässt sie womöglich die Finger davon, ihren Bruder eine eigene Abschrift des Dokuments verfassen zu lassen?«
Was redete er da? Es sollte noch eine Fälschung geben?
»Die kleine hübsche Esther … Ich habe ihr die Augen darüber geöffnet, wie schwer ein Betrug im Vergleich zu einer schwärmerischen Liebelei wiegt. Mir scheint, sie war recht angetan von mir. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie ihr Verlöbnis nicht mehr gar so ernst nehmen und sich einem erfolgreicheren Kaufmann zuwenden würde, wobei die Betonung auf reicheren Kaufmann liegt.«
»So?«
»Gewiss! Könnt Ihr Euch etwa nicht vorstellen, dass ein nettes Weib sich zu mir hingezogen fühlen könnte?«
»Doch, ja, warum nicht? Ich dachte nur, sie und Vitus …«
»Wie auch immer. Morgen zur siebten Stunde hier. Nicht früher und nicht später. Mehr braucht Euch nicht zu kümmern.«
Das Gespräch war beendet. Magnus hatte ohnehin genug gehört, wenn er auch einiges reichlich verwirrend fand. Er ging die Gasse ein Stück hoch, denn er war sicher, dass Felding denselben Weg zurück nehmen würde, auf dem er gekommen war. Darum schlug Magnus gerade die andere Richtung ein und verbarg sich hinter einem Holzhaus, das seine besten Tage bereits vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte.
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Lübeck, 17 . April 1226 – Esther
W ie erwartet, hatte Kaspar sie mit Vorwürfen und einem Donnerwetter empfangen, als sie nach dem Besuch bei Norwid und seiner Schwester gerade eben noch bei Anbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen war.
»Warum sagst du mir nicht, wenn du zu dem Dorfbauern gehen willst?«, hatte er geschrien. Er war außer sich vor Angst um sie gewesen. Sie warf ein, dass sie ihm doch schließlich gesagt habe, sie wolle erneut versuchen ein wenig Fleisch zu bekommen. Sie habe gemeint, er wisse, dass sie deshalb die Stadt verlassen habe. Doch Kaspar war nicht zu beschwichtigen. Gerade neulich erst habe man eine Frauenleiche vor der Stadtmauer gefunden. Es sei immerhin möglich, dass da ein Mörder umging, der nur auf einsame Weibsbilder wartete. Esther hatte gehört, dass die Frau wohl gestorben war, weil sie ein Kind
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