Die unsichtbare Handschrift
Wollt Ihr ihr nicht lieber die Ruhe gönnen, die sie nach einem fleißigen Leben verdient hat?« Sein Lächeln war bezaubernd gewesen, sein Einwand nicht von der Hand zu weisen. Also hatte sie tieftraurig zugestimmt. Doch damit fing das Grauen erst an. Statt der Hand umschlang die Alte nun Heilwigs ganzen Leib. Sie schrie und zeterte, ihre Stimme überschlug sich.
»Für den Rest meines Lebens werde ich kreischen und krakeelen und jedermann verkünden, dass der Graf von Schauenburg ein gottloser Haderlump ist, der seiner Braut ihren einzigen Wunsch ausschlägt.«
»Besonders lange dürfte das ja nicht mehr sein«, hatte Adolf kalt erklärt.
Man musste Mechthild mit Gewalt von Heilwig fortreißen. Beide weinten und streckten die Hände aus, um die andere zu halten. Doch all ihre Gegenwehr nützte nichts. In den folgenden Tagen hörte Heilwig das Schreien und Jammern jede Nacht, bis sie schließlich mit Adolf in der Kutsche saß und in ihre neue Heimat gebracht wurde.
Erst von ihrem Großvater erfuhr sie, dass Mechthild nicht gestorben war, wie man ihr gleich nach den Hochzeitsfeierlichkeiten mitteilte. Als sie an seinem Sterbebett saß, erzählte er ihr, dass man der Alten ein Stück ihrer Zunge herausgeschnitten hatte, um sie für die Beleidigung des Grafen Adolf zu bestrafen. Danach hatte man sie in ein feuchtes Kellerloch gesperrt, wo sie bei vollkommener Dunkelheit tagaus, tagein alleine hocken musste.
»Als ich deinen Vater das letzte Mal sah, das wird wohl schon zwei Sommer her sein, da bat ich ihn um seines eigenen Seelenheils willen, er möge die Amme Mechthild frei lassen. In Lübeck gibt es das Johanniskloster, in dem Alte und Kranke zumindest für eine Weile gut aufgehoben sind«, hatte er ihr berichtet, während sie, eine Hand auf ihrem gewölbten Leib, die andere über den Fingern des Großvaters, in seinen letzten Augenblicken bei ihm saß. »Dorthin hat man sie gebracht. Das solltest du wissen, mein liebes Kind, bevor ich vor unseren Schöpfer trete und niemand mehr da ist, der es dir sagen kann.«
»Man hat sie also nach Lübeck gebracht, wo es ihr auf ihre letzten Tage gut ergehen sollte?«, fragte der Bischof.
»Ja, so war es wohl.«
»Und nun seid Ihr gekommen, meine Tochter, um nach eben dieser Amme zu suchen.« Er betrachtete nachdenklich seinen Bischofsring. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Euer Gemahl ist darüber nicht eben erfreut, nehme ich an.«
»Wie Ihr wisst, hat mein Gemahl ein ganz besonderes Verhältnis zu Lübeck. Eine tiefe Zuneigung und lange Geschichte verbindet ihn mit der Stadt. Er ist ganz erpicht darauf, dass ich ihm vom Fortschritt des Dombaus berichte, für den er eine äußerst großzügige Summe zu spenden gedenkt.« Sie hatte damit gerechnet, dass er ihr nun beflissen jegliche Hilfe anbot, die sie wünschte, und ihr mitteilte, wo sie Mechthild finden konnte. Doch das tat er nicht.
»Die Marienkirche, in der ich vorhin im Gebet saß, als Ihr kamt, steht nicht ohne Grund an dieser Stelle gleich bei dem Rathaus und dem Markt. Sie ist die Kirche des Rates und der Kaufleute.«
Sie fragte sich, worauf er hinauswollte.
»Als ich gerade laufen konnte, wurde die Holzkirche, die zuvor auf dem gleichen Platz gestanden hat, durch das heutige Bauwerk ersetzt. Wir weilen also gewissermaßen die gleiche Dauer auf Gottes Erdboden. Seht mich an, ich bin alt. Nicht mehr lange, dann wird man einen neuen Bischof bestimmen.«
»Euch stehen gewiss noch einige Sommer bevor, ehrwürdiger Vater.«
»Das weiß nur Gott allein.« Er blickte fromm nach oben, als könnte er geradewegs in den Himmel schauen. »Dass die Kirche St. Marien ihre Zeit hinter sich hat, das ist kein Geheimnis. Für all die tüchtigen Kaufleute und ehrbaren Ratsmitglieder ist sie längst zu klein. Und ich will meinen, sie dürfte auch ein gutes Stück prächtiger sein.«
»Denkt Ihr, Gott der Herr hatte an der Holzkirche weniger Freude als an der jetzigen oder an einer noch prachtvolleren?«
»Nein, mein Kind, das glaube ich gewiss nicht.«
Sie wollte ihn gerade fragen, warum er dann wohl meinte, ein festes Bauwerk, das zu guten Teilen aus Stein gemacht war, nach nur einem Menschenleben abreißen und durch ein größeres und prunkvolleres ersetzen zu müssen, doch sie schluckte die Worte hinunter. Sie wollte Mechthild sehen, und zwar bald.
»Aber gewiss seid Ihr der Meinung, dass eine neue große Kirche St. Marien dem Rat wie auch den Kaufleuten gut zu Gesicht stünde.«
»O ja, meine Tochter, das wäre
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