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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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freilassen wollten. Fast noch mehr als um sich selbst sorgte er sich allerdings um Dwina. Der Kriegslord musste damit rechnen, dass sie das Geheimnis des Gefangenen kannte. Damit war auch ihr Leben in Gefahr. Missmutig knüllte Trevir das Leinentuch zusammen, in dem Dwina sein Essen eingewickelt hatte, und schleuderte es von sich. Er hob vorsichtig die breite Holzschale hoch, die wohl eher für Suppe gedacht war, und nahm einen Schluck Wasser. Grimmig betrachtete er sein eigenes Spiegelbild in dem Trinkgefäß. Wenn er wenigstens wüsste, welche Rolle Wulf in diesem unheiligen Spiel zugedacht war! Wie sollte er Molog beim Zusammenketten des Triversums helfen? Was der verzogene Liebling des Kriegslords konnte, das würde auch er, Trevir, notfalls zuwege bringen. Oder es vereiteln können.
    Die Energien des Triversums waren stark an diesem Ort und in dieser Nacht. Ob er versuchen sollte, seinen Rivalen auszuspionieren? Wenn Wulf das Wirken eines Empfängers spüren konnte, musste eine Verbindung zwischen ihnen doch auch in umgekehrter Richtung herzustellen sein. Ihn über eine große Distanz hinweg zu sehen dürfte trotz mancherlei Hindernisse nicht das Problem sein, dachte Trevir, aber vielleicht konnte er ihn ja sogar belauschen, wenn er sich nur genügend darauf konzentrierte – im Verlies von Mologs Festung hatte er schon einmal das Empfinden gehabt, ferne Geräusche wahrzunehmen. Diesem erregenden Gedanken standen Trevirs mangelnde praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der »Fernwahrnehmung« entgegen. Wie sollte er den Kontakt zu Wulf herstellen, ohne sich gleichzeitig zu verraten? Andererseits – was hatte er jetzt noch zu verlieren?
    Trevir schloss die Augen. Er versuchte im Geist die Gestalt eines jungen Mannes zu erschaffen. Zunächst konzentrierte er sich ausschließlich auf das Wesen seiner Zielperson. Weil Wulfs Innenleben für ihn nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln war, orientierte er sich dabei an sich selbst – beide waren sie ja Empfänger. In seiner Vorstellungskraft erschien eine gesichtslose Puppe. Gut! Aber nicht gut genug. Ein wenig mehr Kontur musste er seinem Bewusstseinszwilling schon geben. Der Bruder war im gleichen Alter und hatte ein auffälliges Muttermal. Wie auf einer Töpferscheibe rotierte das Bild in Trevirs Phantasie. Er zögerte. Ihn beschlich das Gefühl, sich zu verraten, wenn er die Einzelheiten seines Ebenbildes zu sehr herausarbeitete. Nein, er musste noch weiter in sein Inneres vordringen, wie eine feine Pulverwolke, die unbemerkt eingeatmet wird.
    Mit einem Mal überkam Trevir ein verwirrendes Gefühl. Es glich jenem Ziehen, das er beim »Sprung« aus dem Verlies bemerkt hatte, war aber doch irgendwie anders, weniger unangenehm, sondern eher von einer warmen prickelnden Intensität. Überrascht öffnete er die Augen.
    Aus der Schale, die er immer noch in den Händen hielt, blickte ihm ein Gesicht entgegen, das eindeutig nicht Wulf gehörte. Trevir schauderte, weil ihm sogleich auffiel, dass mit diesem Spiegelbild etwas nicht stimmte. Das im Wasser liegende Antlitz war völlig ruhig, obwohl sich die Flüssigkeit leicht bewegte. Es glich dem seinen nur äußerlich. Der verstörte Ausdruck, den es erkennen ließ, gehörte einem anderen.
    Vor Schreck hätte Trevir die Schale beinahe fallen lassen. Er entsann sich Aluuins Lektion über die Gesetze zum Zeitpunkt einer so genannten großen Welle. »Wenn dort, wo sich die drei Welten am nächsten kommen, ein Kind geboren wird«, hatte der Gründer des Dreierbunds gesagt, »dann muss es sich zwangsläufig in drei Wesenheiten aufspalten, sobald das Triversum wieder auseinander strebt.« Der Hüter des Gleichgewichts begann zu ahnen, was da gerade geschah.
    »Ich heiße Trevir«, stellte er sich vor. Er musste sich räuspern, um seiner brüchigen Stimme einen resoluten Klang zu geben. »Und wer bist du?«
    »Fr-… Francisco«, stammelte das Gesicht aus der Schale.
    Unvermittelt begann das Wasser zu leuchten, als bestehe es aus flüssigem blauen Licht. Das Antlitz des jungen Mannes verblasste. »Nimm dich vor den Feinden in Acht, die das Gleichgewicht stören wollen! Und halte dich bereit bis zur nächsten Welle!«, rief der Hüter atemlos dem anderen zu, der im nächsten Augenblick verschwunden war.
    Keuchend warf Trevir den Oberkörper zurück, so heftig, dass dabei fast sein Stuhl umgefallen wäre. Die Wasserschale rutschte ihm aus den Händen und hinterließ auf seiner Hose einen großen Fleck. Sein Herz raste, gleichzeitig

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