Die unsichtbare Pyramide
fühlte er sich ausgelaugt wie nach einem ganztägigen Gewaltmarsch. »Warum habe ich ihn nicht nach der Unsichtbaren Pyramide gefragt?«, warf er sich selbst vor. Alles ging so furchtbar schnell. Die Erregung ließ Trevir vom Sitz hochfahren, obwohl seine Beine ihn kaum zu tragen vermochten.
In diesem Moment platzte einer der Posten ins schwarze Zelt. Hatte er den blauen Schimmer bemerkt? Der Mann sah Trevir von oben bis unten an. Erst bemerkte er das Schwanken, dann das blasse, schweißglänzende, entsetzte Gesicht und zuletzt den feuchten Fleck im Schritt. Er zog eine angewiderte Miene. »Das ist ja ekelhaft. Hättest du nicht in den Eimer pinkeln können?«
»Ich…« Trevir schüttelte den Kopf. Er war viel zu benommen, um einen sinnvollen Satz hervorzubringen.
»Geht es dir nicht gut?«
»Nein«, sagte der Gefangene aus tiefstem Herzen.
»Ich rufe deine Dienerin.« Der Soldat verschwand.
Schwer sank Trevir in den Stuhl zurück. Das Pochen in seiner Brust wollte sich nicht beruhigen. Als ihm auch noch der Kopf nach unten sank, erstarrte er. Seine Hände glühten. »Es fängt wieder an!«, hauchte er.
Binnen kurzem schwoll das blaue Strahlen zu einem sonnenhellen Glanz an, der nun selbst den dichten schwarzen Überwurf des Zeltes durchdrang. Am Eingang, wo sich die Stoffbahnen überlappten, schossen blaue Lichtspeere in die Nacht. Ein Wachmann stürzte herein. Als er die gleißende Gestalt im Stuhl sitzen sah, schrie er entsetzt auf, riss den Arm vor die Augen und taumelte zurück.
Aufgeregte Stimmen drangen zu Trevir ins Zelt. Du musst fliehen!, machte er sich klar. Er versuchte sich zu konzentrieren. Zuerst die Fesseln. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Ketten zu versetzen – eben noch waren sie an seinen Hand- und Fußgelenken, jetzt baumelten sie von seiner Armbeuge herab. Trevir ließ sie zu Boden fallen. Und jetzt über den Wehrzaun! Wieder konzentrierte er sich. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Aber die Nebelwolken wollten sich nicht lichten. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er zu erschöpft war. Das Öffnen des Fensters in die Welt dieses Franciscos musste ihn fast alle Kraft gekostet haben. Sein Kinn sank auf die Brust. Er spürte, wie die Verzweiflung ihn zu übermannen drohte.
»Trevir!« Es war Dwinas Stimme, die seinen Kopf wieder hochfahren ließ. Merkwürdigerweise fühlte er sich durch den eigenen Glanz weit weniger als andere geblendet. Im Gegenteil, alles wirkte auf eine beunruhigende Weise durchscheinend für ihn. So auch das Mädchen, das sich zum Schutz ihrer Augen ein Tuch über den Kopf gelegt hatte. Trevir konnte nicht nur die Umrisse ihres Körpers erkennen, sondern sogar die Knochen unter ihrer Haut. Ebenso bei dem Mann an ihrer Seite. Es war Cord von Lizard. Der Waffenmeister benutzte seinen Umhang, um das Gesicht zu beschirmen. In der Linken hielt er den großen Ebenholzspeer zusammen mit Aluuins knorrigem Stab.
»Was geschieht da mit dir?«, fragte Dwina atemlos, nachdem sie sich ihm furchtlos genähert hatte.
»Die Kräfte des Triversums strömen durch ihn hindurch«, antwortete der Waffenmeister an Trevirs statt.
Dwina sah erst Cord, dann wieder den Hüter des Gleichgewichts an, der voll Bitterkeit hinzufügte: »Und Ihr lechzt danach, sie Euch zunutze zu machen.«
Die Stimme des Waffenmeisters klang überraschend sanft – und traurig? –, als er entgegnete: »Du irrst dich in mir, Pilger Trevir. Ich bin auf deiner Seite. Warum, meinst du, habe ich dir deinen Stab gebracht?«
»Um mich vielleicht zu täuschen? Ich falle auf Eure Schliche nicht herein, Herr Cord von Lizard!«
»Muss ich dich erst mit Gewalt dazu zwingen, aus dem Lager zu fliehen?«
»Wie meint Ihr das?«
»Nur du kannst verhindern, was Molog plant. Er will das Triversum zusammenketten. Wie das genau geschehen soll, kann ich nicht sagen – die Dokumente in seiner Eisenkiste hält er selbst vor mir verborgen. Aber Aluuin hat mich gewarnt, dass ein solches Vorhaben das Ende nicht nur unserer Welt wäre.«
Trevir riss die Augen auf. »Aluuin? Ihr habt mit ihm gesprochen? Mein Meister erzählte mir von einem Abtrünnigen, den er im Auge behalte, damit er sein Wissen nicht zum Schaden des Gleichgewichts einsetzt.«
»Unser gemeinsamer Freund sprach von Molog, der wie du auf der Sturminsel erzogen worden ist. Aber sein Herz hat sich dem Bösen zugewandt. Als Novize stahl er einige wertvolle Handschriften Abacucks aus dem Skriptorium von Sceilg Danaan und begann mit Experimenten, um
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