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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dich nicht führen.
    »Nach drei Tagen denkst du immer noch, weil ich nicht sehen kann, müsse ich hilflos umhertappen?« Fatima lachte. »Keine Sorge, Topra. Ich führe dich.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
    Es war ein seltsames Gefühl, als Sehender von einer Blinden geleitet zu werden. Fatima bewegte sich mit einer fließenden Anmut, die keinerlei Unsicherheit erkennen ließ. Sie lief mit Topra aus dem Haus und von dort durch die engen Gassen von Siwa. Ihr Weg führte zunächst nach unten und halb um den zentralen Hügel herum. An dessen westlichem Rand gab es einen steilen Abhang, der fast senkrecht abfiel. Die Wand war schwarz.
    Fatima musste wohl Topras Erstaunen gefühlt haben – seine Hand lag ja noch immer in der ihren –, denn sie lächelte einmal mehr, streifte sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und erklärte: »Die Anhöhe, auf der Siwa wiedererbaut wurde, besteht aus Blut.«
    »Wie bitte?«
    »Keines, das ein Mensch oder ein Tier vergossen hätte, Topra. Es ist das Blut von Anx.«
    »Du meinst erstarrte Lava.«
    »Lass mich dir erst das Orakel zeigen, damit du mich besser verstehst.«
    In der dunklen Wand befanden sich sieben Öffnungen: eine Tür und darüber sechs viereckige Fenster, jedes nicht größer als eine Elle im Quadrat. Vor dem Eingang standen zwei braunhäutige Wächter. Sie trugen eine Art Wickelrock aus einem weißen, in Fältchen gelegten Gewebe sowie ein weites Kopftuch, ihre Oberkörper waren unbedeckt. In der Hand hielten sie Speere. Als sie Fatima näher kommen sahen, verneigten sie sich und öffneten ihr das kupferbeschlagene Tor zum Wüstenorakel Siwa.
    An Fatimas Hand stolperte Topra in einen dämmerigen Tunnel.
    »Das Orakel ist schon seit einigen Generationen nicht mehr in Gebrauch, aber die Menschen hier betrachten es nach wie vor als einen heiligen Ort. Daher hält man auch das Amt der Wächterin bis heute in Ehren.«
    »Der Wächterin des Orakels…?« Mit einem Mal war alles klar. »Das seid Ihr, Fatima!«
    »O Junge! Jetzt fange nicht an, förmlich zu werden. Wenn es jemanden gäbe, dem der Respekt gebührt, dann bist du das.«
    »Ich? Aber…«
    »Still! Sag jetzt nichts. Wir müssen uns beeilen. Die Sonne wird bald untergehen.«
    Topra konnte da zwar keinen Zusammenhang erkennen, aber er fügte sich gehorsam der Wächterin des Orakels. Am Ende des Tunnels traten sie in einen Raum, der ihm den Atem verschlug.
    Die Kammer glich dem Innenraum eines großen Würfels. Ihre schwarzen, spiegelglatt polierten Wände reflektierten das Licht eines sechsarmigen Leuchters. Dadurch wurden auch die bildhaften Schriftzeichen erkennbar, die an der gesamten Innenfläche des Kubus eingraviert waren. Im Zentrum der Kammer stand ein Sockel aus Basalt, etwa zwei Schritt lang, einen breit und einen hoch. Seine Kanten waren wie die des Raumes völlig gerade, seine Flächen makellos glatt. Obenauf befanden sich besagter Leuchter und ein Schiffsmodell. Es ähnelte den alten baqatischen Totenbarken, die bei den Pharaonengräbern im Erdreich verborgen lagen. Sie sollten dem Hingeschiedenen bei der Durchquerung des nächtlichen Firmaments als Fahrzeug dienen, damit er sicher ans Tageslicht des ewigen Lebens gelangte. Die Barke im Orakel war etwa anderthalb Armspannen lang, für solche Zwecke also viel zu klein. Sie hatte auf jeder Seite zehn lange Ruder und in der Mitte ein Häuschen. Bug und Steven waren elegant aufwärts geschwungen, was ihr nicht zufällig die Anmutung einer Mondsichel verlieh.
    Wieder schien Fatima genau zu wissen, worauf Topras Augen gerichtet waren, denn sie erklärte: »Das Orakel von Siwa wurde nicht gesprochen, sondern von der Barke angezeigt. Vier Priester trugen das Boot, zwei vorn und zwei hinten. Sie führten damit bestimmte Bewegungen aus, die für ein Ja oder Nein standen – die Fragen mussten natürlich entsprechend darauf abgestimmt sein. Wenn die vorderen Träger etwa auf das Zeichen der Orakelwächterin in die Knie gingen, wurde damit ein Nicken der Barke angedeutet – es stand für ein Ja.«
    Topra konnte sich das Ritual der Befragung lebhaft vorstellen. Einen Moment lang verschwamm die Umgebung vor seinen Augen, die Wände bleichten aus und die Hieroglyphen daran wichen bunten Symbolen. Priester in langen weißen Gewändern mit kahl geschorenem Haupt hielten das Schiff auf ihren Händen. Aber… Er schüttelte den Kopf, um das Trugbild wieder loszuwerden.
    »Es hat auch männliche Wächter gegeben, Fatima.«
    Ihr Gesicht, eben noch der Barke

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