Die unsichtbare Pyramide
Seite. Ähnlich musst du dir die Drei-Welten-Pyramide vorstellen, die in dem Band abgebildet wird: So weit ihre Ecken auch voneinander entfernt scheinen, bilden sie doch immer ein Ganzes mit einem gemeinsamen Schwerpunkt.«
»Und der liegt hier, in der Oase Siwa?«
Fatima schüttelte den Kopf. »Nein, Topra, er befindet sich in dir.«
Hobnajs zweistöckiges Lehmhaus war wie eine Festung um einen Innenhof herumgebaut, den üppig wuchernde Pflanzen und ein quadratisches Wasserbecken wie ein verkleinertes Modell des Garten Eden erscheinen ließen. Während der Nubier und der Teguarfürst immer noch mit letzten Vorbereitungen für die Abreise am nächsten Tag beschäftigt waren, nutzte Topra die angenehmen Temperaturen nach Sonnenuntergang und entspannte seine strapazierten Nerven, so gut es ging, in dem Privatparadies seines Gastgebers.
Der Seher saß auf der steinernen Umfriedung des Beckens. Seine Hand baumelte im Wasser. In Gedanken beschäftigte er sich mit Fatimas beunruhigenden Offenbarungen aus der Schattenkammer des Orakels. Schon das Drillingsuniversum – sie hatte dieses Wort gleichbedeutend neben dem Begriff »Drei-Welten-Pyramide« benutzt – war ein schwer zu verdauender Brocken. Was aus dem Mund seines Ziehvaters noch spannend geklungen hatte, war für ihn jetzt nur noch beklemmend. Dieser Stimmungswandel hing vor allem mit dem zusammen, was sie ihm über die Hüter des Gleichgewichts erzählt hatte. Ungeheuerlich! Er, ein Angelpunkt der drei Universen – das überstieg sein Begriffsvermögen. Allzu gerne hätte er Fatimas Erklärungen ins Reich der Legenden abgeschoben, doch der beunruhigende Traum vor drei Nächten hielt ihn davon ab. Er hatte im Schlaf nicht nur Dinge gesehen, die sich genau mit den Beschreibungen der Orakelwächterin deckten, sondern sogar noch mehr! Was hier unten ist, ist gleich dem, was oben ist. Der Priester mit dem Opfermesser hatte Himmel und Erde erwähnt. War »Erde« ein anderes Wort für Anx? Oder…? Topra hielt den Atem an. Die blinde Wächterin des Orakels hatte, eher beiläufig, von einem »anderen Namen« gesprochen, den Anx in der Vorzeit besaß. Hieß »Erde« womöglich der Stamm, aus dem die drei Zweige des Drillingsuniversums hervorgegangen waren?
Topra beugte sich über das Wasser und murmelte zu seinem eigenen Spiegelbild. »Kannst du mir verraten, was Erde ist?«
Er hatte nicht wirklich mit einer Reaktion gerechnet, aber sie kam dennoch. Das Wasser begann plötzlich blau zu leuchten. Topras Augen weiteten sich vor Erstaunen, während mit dem reflektierten Antlitz irgendetwas geschah. Zunächst fühlte er die Veränderung mehr, als dass er sie erkennen konnte, aber dann wurde sein Ebenbild mit einem Mal plastisch und schwebte ruhig in dem vom Abendwind leicht bewegten Wasser. War das die Antwort, die er so sehr herbeigesehnt hatte?
Weil er noch immer davon überzeugt war, in dem Becken nur sein eigenes Gesicht zu sehen, reagierte er auf gewohnte Weise und sagte zu sich selbst: »Dieser Traum muss einen Grund haben, Topra.«
Plötzlich blinzelte das Spiegelbild, obwohl er es nicht getan hatte. Wie es ihn da mit offenem Mund angaffte, sah es ziemlich überrascht aus, wohingegen Topra es noch immer für eine jener seltsamen Erscheinungen hielt, an die er sich fast schon gewöhnt hatte. »Vielleicht hängt es mit der Unsichtbaren Pyramide zusammen«, murmelte er.
Das Gesicht schnappte nach Luft, schien etwas sagen zu wollen, doch ehe ihm dies gelang, wurde es von dem blauen Licht im Wasser überstrahlt und verschwand. Allmählich wich das Leuchten aus dem Wasser, aber es wurde immer noch von ihm reflektiert. Nun erst wurde sich Topra seines eigenen Glanzes bewusst. Während er über seine leuchtenden Hände staunte, bemerkte er nicht einmal Hobnaj und Asfahan, die, von dem Licht angezogen, hinter ihm den Hof betraten.
FÜNFTE WELLE
13
Das Wolkenheimkloster
Erde
Oder war es ein Wurmloch? Das wissenschaftliche Magazin rutschte von Franciscos Schoß, er lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Irgendetwas in der Klimaanlage des Hotelzimmers schnarrte. Rasch versank er in Gedanken, die zu dicht waren, um die Störungen länger ins Bewusstsein durchdringen zu lassen. Seit zwei Monaten versuchte er nun schon die Erlebnisse von Glastonbury in sein Weltbild zu pressen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Um seinem Verstand das eigentlich Unverständliche begreiflich zu machen, studierte er sogar wie eben die
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