Die unsichtbare Pyramide
nach war Kii in alter Zeit mit dem Kosmos verbunden. Handelte es sich bei dem »Milchweg« um denselben galaktischen Sternenpfad, der im Englischen milky way hieß, also um die Milchstraße?
Nein, er könne kein Klingeln vernehmen, hatte Francisco seinem Bruder beim Besuch der Halbinsel Kii versichert. Auch die anderen Stationen ihrer Reise durch Nippons Inselwelt lieferten unbefriedigende Ergebnisse. Zuletzt waren sie weit in den Süden nach Okinawa geflogen. Rund um die Ryukyuinseln lagen zwischen zwanzig und dreißig Meter unter der Meeresoberfläche acht Felsstrukturen, die manche Wissenschaftler für acht- oder sogar zwölftausend Jahre alte Überreste menschlicher Bautätigkeit hielten. Zumindest in einem Fall sollte es sich dabei um eine Stufenpyramide handeln. Zu den Verfechtern dieser Theorie gehörte Professor Masaaki Kimura, ein Meeresgeologe der Universität der Ryukyus in Okinawa. Vicente hatte schon von England aus mit ihm Kontakt aufgenommen.
Bis zur Ankunft in Naha, dem Dreh- und Angelpunkt der subtropischen Insel, hatte Francisco nicht geahnt, was ihn dort erwartete. Nachdem er und sein Bruder im Okinawa Washington Hotel Quartier genommen hatten, eröffnete ihm Vicente: »Ich spendiere dir einen Crashkurs im Tauchen.«
»Du meinst doch nicht etwa diese Sache, wo man an Schläuche angeschlossen mit zentnerschwerem Gerät beladen im Meer versenkt wird, um die Aufmerksamkeit von Haien zu erregen?« Allein die Vorstellung bescherte Francisco eine Gänsehaut und – was er sich nicht erklären konnte – ein Gefühl des Ekels.
»Am Anfang denken viele so«, wiegelte Vicente ab. »Du wirst sehen, es macht dir noch einen Riesenspaß.«
Darin hatte er geirrt. Francisco war unter Wasser mehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, als seine Umgebung wahrzunehmen. Nachdem ihm ein kleiner drahtiger Tauchlehrer namens Kihachiro Aratake endlich die nötigen Grundkenntnisse vermittelt hatte, begann unweit von Naha das unterseeische Besuchsprogramm. In Begleitung des Lehrers, Professor Kimuras sowie Vicentes sank Francisco zu einem steinernen Wall hinab, der an eine imposante Festungsmauer erinnerte.
Die tauchende »Kompassnadel« schlug weder hier noch bei den anderen sechs Stationen aus.
Inzwischen hatte sich der Tauchschüler schlau gemacht und eine Reihe kritischer Aufsätze über die angeblichen Unterwassermonumente gelesen. Er neigte eher zu der Ansicht jener Wissenschaftler, die als Baumeisterin der auffällig glatten Felsformationen natürliche Erosion ins Feld führten. Allerdings konnte er nicht ganz ausschließen, dass sie zumindest terra-formed waren, also natürliche Strukturen, denen Menschen ihre endgültige Gestalt gegeben hatten.
Als Francisco seine Zweifel gegenüber Aratake-san erwähnte, lächelte der Tauchführer wissend und sagte: »Warten Sie, bis ich Ihnen Iseki gezeigt habe. Als ich es 1985 vor Yonaguni entdeckte, fühlte ich mich in eine fremde Welt versetzt.«
Yonaguni lag im Ostchinesischen Meer und gehörte zu den südlichsten Inseln Japans. Ein kleines Propellerflugzeug brachte die vier Männer zunächst nach Ishigaki-Shima, von wo aus sie die letzten siebzig Seemeilen mit einem Fischerboot zurücklegten. Iseki – der »Ruinenplatz« – lag in unmittelbarer Nähe des winzigen Eilands.
Tatsächlich erschien Francisco der ungefähr sechzehn Meter tiefe Abstieg zu dem beeindruckenden Plateau wie ein Tauchgang in eine andere Welt. Iseki ragte knapp dreißig Meter aus dem Meeresgrund empor und das auf einer Länge von nicht weniger als einhundertachtzig Metern. Die geometrisch angeordneten Stufen und Terrassen des gewaltigen Felsens machten es ihm schwer, allein an das Wirken natürlicher Kräfte zu glauben.
Vicente erschien hinter dem Glas von Franciscos Taucherbrille und wackelte mit der Hand neben seinem Ohr. Das Zeichen war eindeutig: »Klingelt’s?«
Francisco bedeutete ihm mit einer Geste, dass er nichts spürte.
Diesmal war er sogar ehrlich. Hier gab es keinen Abgrund zur Unterwelt oder wohin auch immer, wie er ihn am Tor Hill in Glastonbury wahrgenommen hatte. Vicente wirkte enttäuscht. Er winkte seinen Bruder hinter sich her und tauchte noch einmal über die zwei riesigen Monolithe hinweg, die einen engen Hohlweg abschlossen, als wären sie mit Absicht dort postiert worden. An einer Stelle tauchten eine Reihe Löcher auf, in denen einst hölzerne Pfosten gesteckt haben mochten. Vicente deutete auf die runden Vertiefungen und wiederholte sein
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