Die unsichtbare Pyramide
Weisheit hin, denn er bedeutete so viel wie »Dreimalgrößter Hermes«.
»Wieder die Zahl Drei«, flüsterte Francisco, während er mit spitzen Fingern in den kopierten Seiten blätterte. Die Traktate enthielten Dialoge, die Hermes mit seinem Schüler Asklepios geführt haben soll. Wie sich aus einer beigefügten Inhaltsaufstellung ergab, enthielt die vorliegende Fassung nicht nur die fünfzehn Büchlein, die sich mit der Zauberei beschäftigten, sondern insgesamt zweiundvierzig Abhandlungen, in denen es außerdem um Musik, Medizin, Mathematik und anderes Wissen ging. Dieser Umstand konnte Francisco jedoch kaum besänftigen. Er betrachtete die Schriften mit äußerstem Argwohn. Jetzt zahlte sich seine Sprachbegabtheit aus, und wenn sie nur dem Zweck diente, sich von diesem teuflischen Werk zu distanzieren. Er ahnte nur zu gut, weshalb sein Bruder sich das Buch besorgt hatte. Angeblich lag im Corpus Hermeticum der universelle Code verborgen, mit dem die Rätsel der Welt gelöst werden konnten. Vicente dürfte sich um diese frühe Ausgabe bemüht haben, weil er befürchtete, spätere Übersetzungen könnten unvollständig oder fehlerhaft sein.
Die Offenbarungen des Hermes Trismegistos galten als wegweisend für die ganze Hermetik, einer antiken religiösen Richtung, in der Magie, Astrologie und Alchemie eine wichtige Rolle spielten. In Ägypten kursierten die ersten hermetischen Schriften bereits um das Jahr 300 vor Christus. Später wurde die Hermetik durch neuplatonisches, christliches und jüdisches Gedankengut beeinflusst. Man bemühte sich, sie mit den Vorstellungen des Gnostizismus in Einklang zu bringen, denen zufolge Mensch und Kosmos Teile einer jenseitigen – guten – Lichtwelt enthielten, die aus der gottfeindlichen – bösen – Materie erlöst werden müssten. Für dieses Rettungswerk seien die Gesandten des Lichts zuständig.
Geist und Materie, Licht und Finsternis – das alles waren Begriffe, die Vicente in den vergangenen Wochen und Monaten häufig benutzt hatte. Zufall? Francisco betrachtete voll Abscheu das Geheimbuch. Er mochte jenen Zeitgenossen nicht vertrauen, die im Corpus Hermeticum eine Abkehr von den magischen Wurzeln erkennen wollten, war es doch bis in die Gegenwart ausgerechnet für Esoteriker ein Quell der Inspiration.
»Wie kann er sich nur mit denen auf eine Stufe stellen?«, murmelte er kopfschüttelnd. Bei seinen Anhängern galt Hermes als menschliche Inkarnation des altägyptischen Thot, des Gottes nicht nur der Schreibkunst, sondern auch der Wissenschaft und Magie. Angeblich hatte Hermes in Gestalt eines Raben in Noahs Arche Unterschlupf gefunden und so das alte Wissen über die Sintflut gerettet. Skulpturen des Thot zeigten ihn als Pavian oder als Ibis – heilige Tiere im antiken Ägypten, wie Francisco aus seinen einschlägigen Studien wusste.
»Das pneuma«, übersetzte er leise eine Passage aus dem zehnten Traktat, »durchdringt das Blut und die Venen und Arterien und bewegt so das Lebewesen.« Er kannte dieses griechische Wort aus seinem Studium der Bibel. Dort wurde pneuma – wörtlich mit »Geist«, »Atem« oder »Hauch« wiederzugeben – unter anderem auf den Heiligen Geist Gottes angewandt, aber auch auf die Dämonen. Hermes Trismegistos ging, wie die zufällig aufgeschlagene Passage des Corpus Hermeticum zeigte, jedoch weiter. Er sah in diesem Geist eine beseelende Kraft, die selbst tote Materie zum Leben erwecken konnte. Was hatte Vicente auf dem Parkplatz von Stonehenge über die Supersymmetrie des Physikers Robert Foot erzählt? Die Spiegelwelten entstünden aus der Verwandlung von Geist in Materie und Materie in Geist? Hatte die Wissenschaft nur neue Namen für die alten Künste der Magie erfunden oder stand sie kurz davor, seit langem vergessene Weisheiten wiederzuentdecken?
»Wir neigen dazu, die einfachen Erklärungen in Bausch und Bogen zu verwerfen und fühlen uns vom undurchschaubaren Irrtum angezogen.« Mit diesen Worten pflegte Bruder Pedro seinen Schülern die Demut im Denken nahe zu legen. Jetzt halfen sie Francisco einen Entschluss zu fassen. Er schob die kopierten Seiten des magischen Buches zu einem sauberen Stapel zusammen, stopfte sie entschieden in den Umschlag zurück – der dabei noch ein wenig weiter zerriss – und versteckte ihn unter Vicentes Bett. Bestimmt würden sie schon morgen abreisen und die japanische Putzfrau die griechische »Sammlung der Hermetik« für einen belanglosen Papierstapel halten, den man nur noch im Müllsack
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