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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sich nicht anzuvertrauen, weder an diesem Morgen noch später. Sein Zaudern hing mit Trevirs Warnung zusammen: Nimm dich vor den Feinden in Acht, die das Gleichgewicht stören wollen! Nicht dass er Vicente böse Absichten unterstellte, nur dessen Euphorie erschien ihm ziemlich kontraproduktiv. Francisco verstand genug von der wissenschaftlichen Methodik, um sich der Gefahren übersteigerter Erwartungen bewusst zu sein. Wenn man die Fakten nur lange genug ignorierte oder nach eigenen Vorstellungen umdeutete, würde man immer finden, wonach man suchte. Irgendwie war jeder in seiner Haut gefangen und betrachtete die Welt nur durch zwei winzige Löcher – als Klosterschüler konnte er ein Liedchen davon singen. Die eigene Unvoreingenommenheit zu bewahren, gehört für einen Menschen wohl zu den größten Herausforderungen. In diesem Bewusstsein wollte Francisco das Erlebte von jeder möglichen Seite betrachten, bevor er sich darüber ein Urteil bildete.
    Dem redseligen Taxifahrer auf der Fahrt zum Glastonbury Hill verdankte er eine dieser neuen Perspektiven. Da war der Name Avalon gefallen. Vicente hatte den keltischen Herrn der Unterwelt mit keinem Wort erwähnt, vermutlich weil er seinen Bruder nicht beunruhigen wollte. Dieses Versäumnis bestärkte Francisco nur in seinem Schweigen. Nein, er würde niemals die Pforte zu einer anderen Dimension aufstoßen, ohne zu wissen, was ihn dort erwartete oder welches empfindliche Gleichgewicht er dadurch störte. Aus dieser Sorge heraus hatte er sich in Glastonbury blind und taub gestellt.
    Vicentes Optimismus war jedoch unverwüstlich. Nach dem »viel versprechenden Fortschritt« unter dem Thron des Feenkönigs Gwyn ap Nudd hatte er seinen Bruder mit einer Reise auf die andere Seite des Globus überrascht. Im Denkschema des Archäologen ergab sich die Begründung wie von selbst: Sogar England und Irland könnten sich, was die Vielzahl heiliger Stätten betraf, nicht mit Japan messen. Immerhin gestand er die Schwierigkeit ein, bei der Größe des Angebots die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Land des Lächelns herrschte zurzeit ein wahres Pyramidenfieber. Jeder wollte welche kennen. So mancher Berg wurde von Pseudohistorikern kurzerhand für künstlich erklärt und in die Kategorie »Pyramide« einsortiert. Francisco begegnete derlei Entdeckungen nicht zuletzt deshalb mit großer Skepsis, weil in der Umgebung solcher Orte – angeblich – auch häufiger UFOs gesichtet wurden.
    Ein anderer Grund für Vicentes besonderes Interesse an Nippons Kulturerbe waren die hier in verklärter Form lebendig gebliebenen Legenden vom verlorenen Kontinent Mu, den manche leichtfertig mit dem versunkenen Lemuria gleichsetzten. Glaubte man dem Briten James Churchyard, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Texttafeln aus einem indischen Kloster ins Englische übersetzt haben wollte, dann waren die Bewohner von Mu groß, schön und stark. Schon vor fünfzigtausend Jahren verfügten sie über Fluggeräte wie auch abgasfreie Energiegewinnung und wohnten in Häusern mit durchsichtigen Dächern, durch die immer die Sonne schien. Außerdem stritten sie sich nie, sondern lebten in Frieden miteinander. Ja, die Leute von Mu waren der Ursprung der menschlichen Rasse. Hier, behauptete Vicente, sei der Zustand jener vereinten Welt beschrieben, die er mithilfe seines Bruders wiederherstellen wolle.
    Francisco hatte sich an seinen in England gefassten Vorsatz gehalten und ein wenig weiter nachgeforscht. Einige Quellen behaupteten, die gängigen Vorstellungen von Mu gingen auf die Theosophen zurück, vornehmlich auf eine gewisse Helena Petrowna Blavatsky, die sich im späten neunzehnten Jahrhundert diese idealisierte Welt nur ausgedacht habe. Nun waren die Theosophen im Allgemeinen und Mme. Blavatsky im Besonderen für ihre Affinität zur Geisterwelt bekannt, was einmal mehr Franciscos Argwohn weckte. Entsprechend skeptisch betrachtete er daher auch die Schilderungen von Takamagahara.
    Unter diesem Namen hatte sich in die japanischen Mythen die Idee von einer Wohngemeinschaft für Götter eingebrannt, die am ehesten mit dem griechischen Olymp zu vergleichen war. Vicente hielt den sagenhaften Berg für nichts anderes als eine Pyramide, die zu einer fremden Welt hinüberführte. Dabei stützte er sich auf die Ansichten einiger Historiker, die in der südlich von Nara gelegenen Halbinsel Kii das wahre Takamagahara sahen. Interessanterweise trug dort ein Fluss den Namen Amano-gawa: »Milchweg«. Der Überlieferung

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