Die unsichtbare Pyramide
Klingel-Zeichen.
Francisco schüttelte nur verärgert den Kopf, was in etwa so viel bedeutete wie: Nein, um Himmels willen! Ich spüre nichts. Und nun lass mich endlich wieder unkomprimierte Luft atmen.
Sein Bruder paddelte mit gesteigertem Flossenschlag zu dem Unterwasserweg, der sich wie eine Ringstraße um den Block zog. Plötzlich erschien vor den Tauchern ein Hai.
Obwohl das Tier nicht länger als anderthalb Meter war, geriet Francisco in Panik. Jeder Flossenschlag, der es ihm näher brachte, ließ es auf absurde Weise wachsen. Und in gleichem Maß nahm Franciscos Beklemmung zu. Er fürchtete ernsthaft, von dem Hai verschluckt zu werden, dessen Maul ihm wie eine schwarze Leere erschien, deren Anblick ihm den Atem raubte. Er riss sich das Mundstück heraus und rang nach Luft. Stattdessen schluckte er Salzwasser.
Zum Glück war Kihachiro Aratake sofort zur Stelle. Er drückte ihm das Mundstück wieder zwischen die Zähne und gab Zeichen, einfach hineinzuhusten. Anschließend ließ er, während er Francisco festhielt, etwas Luft in sein Jackett strömen. Dadurch begannen beide aufzutauchen.
Seitdem hatte sich Francisco nicht mehr unter Wasser gewagt. Die Sinnestäuschung und die Angstattacke, die ihm fast zum Verhängnis geworden waren, konnte er sich noch immer nicht erklären.
Jetzt, nach der Rückkehr ins Okinawa Washington Hotel, spielte er ernsthaft mit dem Gedanken davonzulaufen. Darin besaß er ja schon Übung. Er konnte nicht begreifen, wie sich sein Bruder so schnell von dem neuerlichen Rückschlag hatte erholen und eine Fortsetzung der Suche ankündigen können. In diesem Augenblick diskutierte Vicente vermutlich schon mit Professor Kimura seine weiteren Pläne. Der Meeresgeologe hatte sich vom Enthusiasmus des Archäologen anstecken lassen und sogar seine Absicht kundgetan, sich zukünftig intensiver der Erforschung des Iseki zu widmen.
Francisco erhob ich aus dem Sessel und ging zum Fenster. Vom Hotelzimmer aus konnte er das Ostchinesische Meer sehen. Er seufzte. Sollte er wirklich wieder fortlaufen? War er es seinem Bruder nicht schuldig, ihn zu unterstützen, selbst wenn dabei nicht viel herauskam? Vicente glaubte so fest an die Überlieferungen der Unsichtbaren Pyramide. Erst am Morgen hatte er händeringend gefleht: »Gib noch nicht auf, Francisco! Es existieren so viele Indizien, die mir sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Professor Kimura erzählte mir neulich von einer wichtigen Shinto-Zeremonie, bei der die Wiederkehr des Lichts nach einer Zeit der Dunkelheit gefeiert wird. Du müsstest doch am ehesten spüren, dass solche Legenden ihren Ursprung in wahren Ereignissen haben. In Glastonbury habe ich dieses Licht gesehen. Du bist sein Hüter.«
»Ja«, murmelte Francisco und wandte sich wieder vom Fenster ab, »den Glanz kann ich kaum abstreiten. Auch die anderen merkwürdigen Phänomene nicht. Aber der Rest…?«
Um sich abzulenken, nahm er am Schreibtisch Platz und angelte ein Blatt Papier aus der Schublade. Er würde ein paar Zeilen an Clara schreiben. Obwohl bisher weder sie noch die Klosterbrüder aus La Rábida auf seine Briefe reagiert hatten, wollte Francisco es noch ein letztes Mal versuchen. Gedankenvoll sah er auf den leeren Bogen mit dem Hotellogo, einem umkränzten W in gebrochener, altenglischer Schrift. Wie sollte er beginnen? Sein Blick schweifte zu dem Kugelschreiber, der oberhalb des Briefpapiers lag. Der Stift setzte sich unvermittelt in Bewegung und rollte auf die Tischkante zu. Bevor er zu Boden fallen konnte, fing Francisco ihn auf und lächelte. Wie leicht es ihm doch inzwischen fiel, die Schwerpunkte von Gegenständen zu verschieben! Er setzte die Spitze der Mine aufs Papier.
Liebe Clara!
Ich habe längst aufgehört, meine Briefe an dich zu zählen. Bis heute hegte ich immer noch Hoffnung, dass du mir eines Tages antworten wirst. Doch ich fürchte, der letzte Rest davon geht nun in diesen Zeilen auf. Ich liebe dich nach wie vor. Selbst wenn ich meine Gefühle auf die eines Onkels zu seiner Nichte beschränken muss, schmerzt mich doch dein beharrliches Schweigen. Bitte verstehe das nicht als Vorwurf, ich möchte nur offen zu dir sein. Vicente ist mir in den vergangenen Monaten ein teurer Bruder geworden, obwohl er manche Marotte hat, die mich auf eine harte Probe stellt. Doch ich will nicht zwischen dir und deinem Vater stehen. Sein Verhalten euch gegenüber verurteile ich so wie du – nur vielleicht nicht mit derselben Unbarmherzigkeit. Liebe Clara,
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