Die unsichtbare Pyramide
können wir nicht einfach Freunde sein? Ich vermisse so sehr dein aufmerksames Zuhören, dein unbeschwertes Reden, dein fröhliches Lachen und dein engelsgleiches Gesicht.
Noch einmal möchte ich dich auch bitten, mir etwas über Pedro zu berichten. Es war wohl verletzter Stolz, der mich lange davon abgehalten hat, ihm zu schreiben. Als ich es dann tat, erhielt ich keine Antwort. Was ist mit ihm geschehen? Sitzt er immer noch im Gefängnis? Ich kann nicht glauben, dass er an einem Mordkomplott gegen meine Eltern beteiligt gewesen sein soll, zumal mir erst im Nachhinein etwas Merkwürdiges aufgegangen ist: Die Polizei hatte bei seiner Festnahme nichts von einer Verschwörung erwähnt. Gibt es im Besitz deiner Mutter irgendetwas (Fotos, persönliche Aufzeichnungen, Dokumente), das Licht in diese fragwürdige Angelegenheit bringen könnte? Bitte antworte mir doch, Clara, und wenn es nur um unseres gemeinsamen Freundes Pedro willen ist!
Dein dich liebender Francisco
PS: Sobald ich weiß, wohin Vicente mich als Nächstes entführt, teile ich dir die Adresse mit.
Entschlossen faltete Francisco das Blatt zusammen und steckte es in einen Umschlag. Nachdem er diesen beschriftet hatte, verließ er das Zimmer und fuhr mit dem Fahrstuhl zur Rezeption hinab. Dort fragte er eine uniformierte Hotelangestellte, ob es möglich sei, den Brief per Luftpost nach Spanien zu schicken. Sie antwortete mit einem schwer verständlichen japanischen Akzent, jedoch mit vollendeter Höflichkeit.
»Selbstverständlich erledigen wir das gerne für Sie, Mr Serafin. Sollen wir das Briefporto auf die Hotelrechnung setzen oder möchten Sie es gleich bezahlen?«
»Tun Sie es…« Ein vages Gefühl ließ Francisco verstummen. »Nein, ich bezahle doch lieber gleich.«
Die Rezeptionsdame lächelte. Nachdem sie von dem Gast einhundertundzehn Yen kassiert hatte, kontrollierte sie noch einmal den Zimmerstatus auf ihrem Computermonitor und frischte ihr Lächeln auf. »Ich sehe gerade, da ist eine Sendung für Mr Alvarez eingetroffen. Möchten Sie die Post gleich mitnehmen?«
Nicht immer bewohnten die Brüder ein gemeinsames Hotelzimmer, aber bei den exorbitanten Preisen in Japan hatte man sich im gegenseitigen Einvernehmen zu dieser Kostendämpfungsmaßnahme entschlossen. Francisco streckte die Hand aus und nickte. »Kein Problem.«
Die freundliche Dame reichte einen großen, erstaunlich dicken Umschlag über den Tresen. Unter Einsatz zahlreicher Verbeugungen entschuldigte sie sich für den arg ramponierten Zustand des Kuverts. An einer der beiden Querseiten war das braune Papier fast vollständig aufgerissen. Die Sendung sei von der Post schon so angeliefert worden, beteuerte die Angestellte. Francisco gewährte ihr Absolution.
Auf dem Weg zurück zum Fahrstuhl studierte er den Absender. Der schwere Brief kam aus Amsterdam. Gab es etwa auch in den Niederlanden Pyramiden? Vicente hatte nie dergleichen erwähnt. Wieder im Hotelzimmer warf Francisco die Post aufs Bett seines Bruders. Dabei riss das Kuvert vollends auf und der Inhalt rutschte heraus.
Zunächst zögerte Francisco. Vicente machte normalerweise keinen großen Hehl aus seinen Privatangelegenheiten. Nur seinen kleinen Aluminiumkoffer, in dem er verschiedene Dokumente und wohl auch ein paar persönliche Dinge aufbewahrte, hütete er wie einen Schatz. Ob er den Stapel Papier, der da auf der Tagesdecke lag, auch in dem silbernen »Intimsphärentresor« einschließen würde?
»Es könnte ja etwas Dringendes sein«, entschuldigte sich Francisco für die eigene Neugier, hob die Dokumente auf, drehte sie um – und ließ sie gleich wieder fallen.
Die Knie wurden ihm weich und er sank neben dem Papierstapel aufs Bett. Fassungslos starrte er auf den obersten Bogen. Es handelte sich um die Kopie des Titelblattes eines sehr alten Buches. Sein geheimnisvoll klingender Name war Francisco nicht fremd.
CORPUS HERMETICUM
Er hatte von dem Werk gehört und einiges darüber gelesen. Es nun vor sich liegen zu sehen, rief ihm eisige Schauer über den Rücken. Obwohl von dieser »Sammlung der Hermetik« etliche Übersetzungen existierten, hatte sich Vicente den griechischen Urtext zuschicken lassen. Anscheinend handelte es sich um eine der ersten gedruckten Ausgaben der insgesamt fünfzehn Traktate, die angeblich auf die Offenbarungen des Hermes Trismegistos zurückgingen, des Vaters der Geheimlehren, eines Mannes, der nie gelebt hatte. Der Name des Verfassers deutete auf den ägyptischen Gott der
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