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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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von Vicente gesammelten naturwissenschaftlichen und archäologischen Aufsätze. In der Zeitschrift, die er gerade gelesen hatte, war eine Theorie erläutert worden, der zufolge es Abkürzungen in der fast flachen Raumzeit geben könnte, die weit entfernte Regionen des Universums miteinander verbanden. Ein Raumschiff könnte bequem zwischen ihnen hin- und herpendeln, wenn es eine dieser schmalen Röhren benutzte, die man auch Einstein-Rosen-Brücken nannte. Oder eben Wurmlöcher.
    »Ob es auch welche gibt, die in andere Welten hinüberführen?«, murmelte Francisco. Niemand hörte ihn, denn er war allein im Zimmer. Sein Bruder hatte das Washington Hotel gleich nach dem Einchecken wieder verlassen, weil er sich in Naha noch einmal mit Professor Masaaki treffen wollte. Sie waren erst am Mittag hierher, in die größte Stadt der japanischen Insel Okinawa, zurückgekehrt, um sich von den Strapazen der vergangenen Tage auszuruhen und ihr weiteres Vorgehen zu planen.
    Franciscos Blick wanderte wieder zu dem Magazin. Verfügten die Menschen im Altertum über ein verloren gegangenes Wissen, das ihnen half, solche Nahtstellen im Multiversum zu finden? Vicente führte zur Stützung seiner Theorie gerne die über den ganzen Globus verstreuten Pyramiden an.
    »Sobald ein Teilchen mit seinem Antiteilchen zusammentrifft, zerstrahlt es in einem Lichtblitz«, wiederholte Francisco leise einen der Kernsätze des eben gelesenen Artikels. Müsste dann nicht unweigerlich, wenn die Welten des Multiversums sich ganz nahe kämen, ein helles Strahlen entstehen? Um die Welt stabil zu machen, hatte der Physiker Paul Dirac gesagt, müsse es zu jedem Teilchen dieser Welt ein Spiegelteilchen geben, mit gleicher, aber negativer Masse. Angenommen, dieser Topra mit der unübersehbaren Narbe im Gesicht war so etwas wie ein »Spiegelbruder«, woher kam dann der energische andere, der sich Trevir genannt hatte? Francisco stieß die Zeitschrift mit dem Fuß zur Seite und schüttelte unwillig den Kopf.
    »So kommen wir nicht weiter.«
    Vicente träumte immer noch davon, eines dieser Wurmlöcher, oder was immer die Welten miteinander verband, auf Dauer zu öffnen und so ein neues Zeitalter für die Menschheit einzuläuten. Francisco hingegen erschien dieses Vorhaben so absurd wie zu Beginn ihrer monatelangen Reise.
    »Das stimmt nicht ganz«, widersprach der Advocatus Diaboli seines Bewusstseins, der sich immer dann einbrachte, wenn er sich auf dem vermeintlich festen Boden des von der Kirche abgesegneten Weltbilds sicher wähnte. Es musste einen plausiblen Grund für jene seltsamen Empfindungen geben, die er nahe der Insel Skellig Michael und auch beim Anblick der halb verdorrten Linde in Glastonbury gespürt hatte. Ein Déjá-vu-Erlebnis, das auf Seelenwanderung beruhte, schied für Francisco nach wie vor als Erklärung aus. Aber was war es dann? Litt er womöglich unter Schizophrenie oder einer anderen psychischen Störung?
    Er hatte – nach Vicentes Theorie von den schwingenden Welten – am 6. April 1994 den höchsten Punkt seiner vierten Lebenswelle durchschritten. An diesem Tag seien die Kräfte des Multiversums in ihm besonders stark gewesen. Deshalb habe er im Wasser der Blutquelle auch die Gesichter seiner beiden Drillingsbrüder erblickt. Während Vicente von einem »viel versprechenden Fortschritt« gesprochen hatte, wuchs in Francisco die Angst vor jenem unbekannten Teil seines Ichs, der da allmählich zum Vorschein kam.
    Schon am Morgen nach dem Erlebnis bei der Blutquelle hatte sich der Fortgang dieser Entwicklung abgezeichnet. Francisco war wie geplant mit seinem Bruder zum Tor hinaufgestiegen. Unterwegs wurde ihm schwindlig. Es kam ihm so vor, als spaziere er am Rand eines gähnenden Abgrundes entlang, obwohl da nur die sanften Stufen des grasbewachsenen Hügels waren. Ja, du kannst die Nahtstelle des Multiversums spüren, sagte ihm sein Gefühl, aber Franciscos Verstand sträubte sich dagegen. Unbewusst versuchte er, den Hang in seiner Vorstellung horizontal auszurichten. Plötzlich kamen ihm von unten kleine Steine und lose Grasstücke entgegen: bergauf.
    Vicente, ganz von dem Turm am Gipfel des Tor gebannt, hatte von alldem nichts bemerkt, denn das Rutschen und Kullern dauerte nur wenige Sekunden. Wie von einem unsichtbaren Bannkreis gebremst, hörte es dicht unter der Hügelkuppe von alleine wieder auf. Francisco marschierte schweigend weiter, so als wäre nichts geschehen. Verstört suchte er nach einer Erklärung. Vicente wagte er

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