Die unsichtbare Pyramide
runzelte die Stirn. Was für eine Scharlatanerie hatte sich sein Bruder jetzt wieder ausgedacht? »Plan B?«
»Würdest du mit mir ein Kloster besuchen?«
Die düsteren Wolken über Franciscos Miene verzogen sich. »Behaupte jetzt nicht, ich hätte den verlorenen Sohn in den Schoß der Mutter Kirche zurückgebracht.«
»Keine Sorge, ich bin und bleibe ein verkappter Agnostiker: Mag sein, dass dein Gott wirklich existiert, vielleicht aber auch nicht – es ist mir egal. Dennoch bewundere ich die Akribie, mit der manche Mönche ihren Aufgaben nachgehen. Professor Kimura empfahl mir heute, wir sollten diese alberne Suche nach magischen Orten aufgeben und uns lieber auf die tatsächlich erhaltenen Dokumente alten Wissens stürzen.«
»Du meinst Bücher wie den Corpus Hermeticum?«
»Jetzt vergiss einmal dieses Sammlung. Nein, der Professor erzählte mir von einem ›Ort wie aus einer anderen Welt‹. Nicht Pyramiden seien dort zu finden, sondern eine Bibliothek, die das Wissen der Menschheit vor mehr als tausend Jahren enthalte. Er sprach von Yunjusi, dem Wolkenheimkloster.«
»Nie gehört.«
»Es liegt ungefähr achtzig Kilometer von Peking entfernt.«
»In China?« Francisco spürte Erleichterung, weil das Gespräch sich von der metaphysischen Ebene weg zu handfesteren Vorschlagen verlagerte. Er grinste. »Verglichen mit dem Pensum, das schon hinter uns liegt, ist Peking ja gleich um die Ecke. Entschuldige, wenn ich eben so eklig zu dir war.«
»Schon gut. Ich vergesse immer, dass dein Weltbild und das meine einander so ähnlich sind wie eine weiße Dogge und ein kleiner schwarzer Pudel.«
»Was macht die Bibliothek des Wolkenheimklosters denn zu so etwas Besonderem?«
»Sie besteht aus nicht weniger als fünfzehntausend Steintafeln, die größtenteils in der Erde verborgen liegen.«
»In der Erde?«, wiederholte Francisco skeptisch. »Müssen wir die etwa ausgraben?«
»Das wird nicht nötig sein. Nach ihrer Entdeckung hat man von den Tafeln Abklatsche auf Papier hergestellt. Sie werden im Pekinger Kloster der Gesetzesquelle aufbewahrt.«
»Sind sie dort auch für die Allgemeinheit zugänglich?«
Vicente lächelte. »Wir sind nicht die Öffentlichkeit, Brüderchen, sondern zwei Kulturreisende mit einem großen Herz für unterbezahlte Beamte.«
Nach der Ankunft in Peking dauerte es lediglich zwei Tage, bis Vicentes Bestechungsgeschenke die richtigen Türen geöffnet hatten. Dabei half ihm ein dickes Bündel Ein-Dollar-Scheine, das er in kleinere Portionen auf- und diese dann geschickt verteilte – chinesische Beamte waren selbstgenügsam. Vicente betrieb dieses Spiel mit hämischer Freude, nicht allein deshalb, weil der Dollar, das grüne Monument des Kapitalismus, in einem kommunistischen Land per se als Zahlungsmittel des Teufels gelten musste. Mehr noch amüsierte ihn die abgefeimte Bildersprache jener Banknoten, deren Rückseite eine Pyramide mit einem Auge in der Spitze zeigte. Für den Archäologen war diese angeblich aus Freimaurerkreisen bekannte Symbolik nur ein weiterer Hinweis auf die Unsichtbare Pyramide. Das allsehende Auge Gottes – sehr häufig in einem Dreieck dargestellt – gehe in Wahrheit auf das Emblem des ägyptischen Gottes Horus zurück. Je mehr dieser Zusammenhänge Francisco bekannt wurden, desto befremdlicher kam ihm die Durchdringung der Christenheit mit all diesem heidnischen Brimborium vor. Hatte Gott sein Volk Israel nicht aufgefordert, alle »mistigen Götzen« aus dem Land fortzuschaffen? Lautete nicht das erste der Zehn Gebote: »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben«?
Vicente ließ sich von derartigen Erwägungen nicht irritieren. Er verwies süffisant auf die Rückseite seiner Dollarnoten, wo sich um die Basis der Pyramide der Schriftzug Novus Ordo Seclorum wölbte, also eine »neue Ordnung der Zeitalter« beschwor. Ja, eine Neuordnung der Welt werde es geben, wenn sie erst ihr Ziel erreicht hätten, prophezeite er.
Zunächst stand indes der Besuch von Fayuansi, dem Kloster der Gesetzesquelle, auf dem Programm. Dieser buddhistische Tempel hatte so manchen politischen Sturm überdauert und hütete im Zentrum des modernen Peking jenen unvergleichbaren Schatz, der den beiden spanischen Besuchern die Pforte zu einer neuen Welt aufstoßen sollte. Weil die Mönche nur des Chinesischen mächtig waren, hatte Vicente einen Teil seiner Pyramidenscheinchen zur Beschaffung eines Dolmetschers aufwenden müssen. In Gestalt von Professor Yuan Xi ließ sich ein solcher
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