Die unsichtbare Pyramide
schnell gewinnen. Xi war ein bebrillter, vollbärtiger, gemütlicher kleiner Mann Ende vierzig, dessen rundliche Körperformen eindrucksvoll belegten, dass für die akademische Oberschicht die schweißtreibenden Arbeitseinsätze in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nicht mehr zum Pflichtprogramm zählten. Das Land hinter der chinesischen Mauer öffnete sich der Welt, will heißen, dem Dollar.
Professor Xi holte seine Gäste kurz nach acht aus dem Beijing Hotel ab. Mit dem Taxi fuhren sie gemeinsam zum Fayuansi-Tempel. Im Buddhismus wird der Begriff Tempel, entgegen westlichen Vorstellungen von Gotteshäusern, nicht nur auf ein einzelnes Bauwerk angewandt, sondern auf eine ganze Anlage, die der religiösen Verehrung dient. Die Gebäude des »Tempels der Quelle des Dharma« erschlugen die beiden europäischen Besucher nicht gerade mit jener vor Gold nur so strotzenden Pracht, die sie von den einschlägigen Postkarten kannten. Das rote Portal wurde von zwei steinernen Löwen bewacht – es mochten auch Höllenhunde sein, Francisco war sich über die Natur der Tiere nicht ganz schlüssig. Das geschwungene Dach des Tores bestand aus verwitterten grauen Steinziegeln. Gleich hinter dem Eingang wurden die Brüder von einem Mönch empfangen, der ein braunes, fast bis zum Boden wallendes Habit trug, das dem franziskanischen Klosterschüler sogleich Vertrauen einflößte. In gemächlichem Tempo bewegte sich die Gruppe durch eine mit Bäumen, Büschen und Moos begrünte Anlage, in der sich auf einer Achse insgesamt sechs große Hallen reihten. Vor einem der Gebäude sah bereits der etwa sechzigjährige Abt mit erwartungsfrohem Lächeln seinen Gästen entgegen. Offenbar hatte Vicentes pyramidale Spende ein äußerst günstiges Milieu geschaffen.
Auch Li Yi, der Vorsteher des Tempels der Gesetzesquelle, entsprach nicht dem europäischen Klischee vom kleinen, drahtigen Chinesen. Er war im Gegenteil sogar größer als der kantige Vicente, hatte ein breites, gutmütiges Gesicht und ein Haupt, das sich im fortgeschrittenen Stadium der Enthaarung befand. Seine Frisur erinnerte stark an ein unrasiertes Kinn. Der Professor und der Abt begrüßten sich wie alte Freunde – vermutlich standen sich Xi und Yi nicht nur alphabetisch nahe. Das Willkommen für Vicente und Francisco war deutlich respektvoller, wenn auch nicht weniger herzlich.
Yi – der Abt – führte die Besucher in die Bibliothek und zeigte ihnen die großen Regale, in denen sich die Abklatsche der Steintafeln aus dem Wolkenheimkloster, katalogisiert, zusammengerollt und in Papierhüllen gesteckt, stapelten. Nicht ohne Stolz erklärte er während seiner Führung, dass Fayuansi der älteste buddhistische Tempel in Peking sei und einige alte Figuren beherberge, die man vor der Zerstörungswut der kommunistischen Kulturrevolution hatte bewahren können. Ganz besonders lobte er die große Skulptur der Vairocana-Halle: Wie bei einem stilisierten Lotos fächerten sich in ihr Blätter auf, die alle aus Buddha-Darstellungen bestünden. Zu Haupten des Betrachters thronten sie als Symbol für Norden, Süden, Osten und Westen. Doch über ihnen stehe ein weiterer transzendenter Buddha, der die fünfte Himmelsrichtung repräsentiere: die Mitte.
An dieser Stelle horchte Vicente auf. Francisco hörte seinen Bruder murmeln: »Das Tor zum Ursprung des Multiversums!«
»Was haben Sie gesagt?«, erkundigte sich Professor Xi.
Vicente lächelte. »Entschuldigen Sie. Habe nur laut nachgedacht. Ich interessiere mich brennend für die steinerne Bibliothek aus dem Wolkenheimkloster. Können Sie mir in kurzen Worten sagen, welches Wissen darin verzeichnet ist?«
Yi warf seinen breiten Schädel zurück, lachte und erläuterte sodann in einer Art feierlichem Sprechgesang den Grund seiner Heiterkeit. Xi fasste die etwa zweiminütige Erklärung in der Äußerung zusammen: »Die Bibliothek ist sehr umfangreich, Mr Alvarez.«
»Wie umfangreich?«, hakte Vicente nach.
Yi antwortete über Xi: »Wie Sie wohl wissen, basiert die chinesische Schrift auf Bildzeichen. Meist genügt ein einziges Symbol, um einen Begriff wiederzugeben. Auf den tausenden von Steintafeln, die man bei der Südpagode des Yunjusi entdeckte, befinden sich ungefähr dreißig Millionen dieser Ideogramme.«
»Dreißig-… ?« Francisco verschlug es beinah die Sprache. »Aber Sie haben sich doch bestimmt mit dem Inhalt der Steintafeln beschäftigt. Ist er samt und sonders religiöser Natur oder…« Vicente machte
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