Die unsichtbare Pyramide
mit den Händen eine vage Geste.
»Das ist richtig«, erwiderte Yi mittels Xi. »Einen wichtigen Bestandteil der Aufzeichnungen stellen die Sutren des Buddha und Gebote für die Gläubigen dar. Aber damit allein könnte man nicht hunderte von Mönchen mehr als ein halbes Jahrtausend lang beschäftigen. Die Tafeln enthalten auch Rat, etwa für das richtige Pflanzen von Bäumen, ja ganz allgemein für den weisen Umgang mit der Natur wie auch für das Vermeiden von Hungersnöten und Seuchen. Mitunter werden präzise Lebensregeln aufgeführt: kein Duftöl nach dem Baden benutzen, am Nachmittag und Abend nichts mehr essen, alle zwei Wochen einen Tag fasten.« Der Mönch reckte den Zeigefinger nach oben. »Vor allem: Enthalte dich des Fleisches! Das ist sehr wichtig.«
»Hm«, machte Vicente. Ihm war anzusehen, dass er sich mehr von den Schriften erhofft hatte, die den Worten Professor Kimuras gemäß von einem »Ort wie aus einer anderen Welt« stammten.
Yi musste das wohl spüren, denn er fügte lächelnd hinzu: »Eigentlich finden Sie auf unseren Abklatschen alles, was eine alte Kultur an Wissen über Menschen, Moral und Medizin gesammelt hat. Sie müssten mir schon etwas genauer sagen, wofür Sie sich interessieren.«
Francisco konnte ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sah, wie sein Bruder sich das Kinn rieb, und war gespannt, auf welche Weise Vicente die erhofften Antworten aus dem Mönch herauskitzeln wollte, ohne allzu viel von seinen eigenen Zielen preiszugeben.
»Wie alt, sagten Sie, ist die steinerne Bibliothek vom Yunjusi?«, fragte der Archäologe in nachdenklichem Ton.
Yi schmunzelte. »Ich habe es nicht gesagt. Das Alter variiert, weil die Mönche ungefähr sechshundert Jahre benötigten, um das Wissen ihrer Zeit in den Stein zu ritzen. Die ältesten Tafeln stammen aus der Tang-Dynastie, Anfang des siebten Jahrhunderts Ihrer Zeitrechnung.«
»Dann sind sie also mehr als eintausenddreihundert Jahre alt.«
Yi nickte.
»Ich habe mich gerade gefragt, warum die Mönche ihr Wissen in Stein gegraben haben, wenn in China doch längst Druck und Papier erfunden waren.«
»Das ist relativ einfach zu beantworten. Bei der ersten Tafel, die auf das Jahr 628 Ihrer Zeitrechnung datiert wird, handelt es sich um eine düstere Prophezeiung vom nahen Ende der Menschheit und der bevorstehenden Finsternis der Welt.«
Vicente blühte nun regelrecht auf. Aufgeregt fragte er: »Äußern sich die Texte auch über die Ursachen des Untergangs?«
»In den fast fünfzehntausend Papierbahnen, die wir hier aufbewahren, ist nichts dergleichen zu finden.«
»Sind Sie sich ganz sicher?«
»Junger Mann, ich habe fast mein ganzes Leben mit dem Studium der steinernen Bibliothek verbracht. Sie finden auf mindestens dreißig Tafeln allerlei Überlebensregeln für die wenigen Auserwählten, die in einem fernen Weltalter dem Untergang entkommen sollen, weil sie sich auf Berge wie auch in Höhlen flüchten und die Gebote Buddhas beachten. Selbst über die Begleitumstände der Katastrophe wird einiges gesagt, über das schonungslose Abbrennen von Wäldern, die von Fluten verursachten Verwüstungen, die unbekannten Krankheiten und Seuchen, denen die Geschwächten zum Opfer fallen, wie auch über die Naturkatastrophen, durch die unsere Erde am Ende unbewohnbar wird. Aber über den eigentlichen Auslöser des Unglücks schweigen sich die Tafeln aus.«
»Man könnte fast glauben, die Prophezeiungen sprächen über unsere Zeit«, sagte Francisco fröstelnd.
»Oder über Ereignisse, die sehr weit in der Vergangenheit liegen«, entgegnete Vicente, um sich sogleich wieder an den Abt zu wenden. »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wurde die steinerne Bibliothek geschaffen, um das Wissen der Menschheit durch die Apokalypse… Oh! Verzeihen Sie diesen christlichen Terminus. Über den Weltuntergang hinweg zu bewahren.«
»Das ist ebenfalls richtig. Auch am chinesischen Kaiserhof erwartete man ein solches Ereignis. Sollten Sie je Gelegenheit haben, Yunjusi zu besuchen, werden sie oberhalb der Donnerklanghöhle – sie befindet sich in unmittelbarer Nähe des Klosters – die Pagode der Prinzessin Goldfee sehen. Mit ihrer Errichtung wollte die kaiserliche Familie für die Endzeit Vorsorge treffen. Goldfee, die Enkelin der berühmt-berüchtigten Kaiserin Wu, vermachte den Mönchen von Yunjusi umfangreichen Landbesitz, damit sie für ihr Seelenheil beteten und ihr Meißeln der steinernen Bibliothek fortsetzen konnten.«
»Die Höhle, die
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