Die unsichtbare Pyramide
Sie eben erwähnten…«
»Die Donnerklanghöhle?«
»Ja, welche Bewandtnis hat es damit?«
»Sie ist einer von insgesamt neun künstlichen Felsenräumen, die sich an dem Bergkamm hinter dem Kloster Yunjusi befinden, und geht auf Jingwan zurück, einen jungen Mönch, der ein Gelübde ablegte: Er wollte das Wissen der Welt bewahren. So nahm die steinerne Bibliothek ihren Anfang. Jingwan schlug die Kammer aus dem Fels und verkleidete sie mit einhundert-siebenundvierzig Schrifttafeln, die ersten jener fünfzehntausend, deren Papierabzüge wir hier aufbewahren. Wie in einer Zeitkapsel sollten sie in den Höhlen überdauern. Später hob man allerdings im Kloster eine große Grube aus und bettete zehntausend Tafeln dort hinein. Damit sie nicht aneinander schabten, füllten die Mönche weiche Lösserde in die Zwischenräume…«
»Moment«, unterbrach Vicente die Übersetzung von Professor Xi, »sagten Sie nicht gerade, es gebe hier fünfzehntausend Abklatsche? Wenn nur zehntausend Tafeln vergraben wurden, wo befinden sich dann die restlichen fünftausend?«
»In den neun Höhlen«, antwortete Yi über Xi. »Bis auf die Donnerklanghöhle sind die anderen wieder versiegelt worden.«
»Wurden sämtliche Tafeln kopiert?«
»Nein. Die Mönche hatten ihr Werk anscheinend abbrechen müssen. Es gibt einige hundert unbeschriftete Platten und ein paar Dutzend, die noch nicht ausgearbeitet sind.«
»Was meinen Sie damit?«
»Bevor die Schriftzeichen mit einem Stichel in den Stein gegraben werden, muss man sie erst mit Tinte vorzeichnen. Etliche solcher ›Rohlinge‹ sind in den verschiedenen Höhlen verteilt.«
»Und man kann die Schrift noch lesen?«
»Erstaunlicherweise ja. Nur konnten wir sie nicht mit dem üblichen Verfahren kopieren. Wir tragen schwarze Tusche auf die Tafeln auf, klopfen sie dann in eine feuchte Papierbahn ein, die wir über den Stein legen, und ziehen den fertigen Abklatsch wieder…«
»Kann man die unfertigen Schrifttafeln ansehen?«, unterbrach Vicente aufgeregt den Dolmetscher.
Der Ausdruck in Professor Xis Gesicht verriet, dass er solcherlei Unhöflichkeiten nicht gewohnt war. Schließlich übersetzte er aber doch zunächst die Frage und anschließend die Antwort des Abtes Yi.
»Nein.«
»Aber Sie haben sie doch auch…« Vicente hielt inne, sah erst den Abt, darauf den Professor an und lächelte dann. »Angenommen, ich würde meine Spenden zur Förderung der Wissenschaft und für den Erhalt des Klosters der Gesetzesquelle aufstocken, könnten Sie dann für mich ein gutes Wort einlegen?«
»Ich glaube nicht, dass man Ihnen oder sonst irgendjemandem erlaubt, in den Höhlen herumzustöbern«, erklärte der Abt bestimmt.
Vicente erweckte den Eindruck, als habe jemand einen Stöpsel aus ihm herausgezogen – er schrumpfte sichtlich zusammen.
Francisco verstand zwar nicht, warum sein Bruder sich plötzlich so brennend für Endzeitszenarien interessierte, wo sie doch ausgezogen waren, um die Welt zu heilen, aber er vermutete, dass es da einen Zusammenhang gab, vielleicht ein umkehrbares Gesetz, das sich sowohl auf die eine als auch auf die andere Weise anwenden ließ. Zaghaft ergriff er das Wort und bediente sich dabei unbewusst einer ähnlichen Formulierung, wie sie auf den Ein-Dollar-Noten nachzulesen war.
»Angenommen, wir wüssten genau, wo wir das Geheimnis einer Neuordnung der Zeitalter finden könnten; wenn wir die Mönche bäten, uns nur eine der neuen Höhlen zu öffnen – würden sie es tun?«
»Was soll das, Francisco? Willst du etwa raten?«, stieß Vicente verärgert hervor.
Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Hatte ich dir nicht von meiner Begabung im Finden verlorener Dinge erzählt?«
Vicentes Augen wurden groß. »Willst du damit andeuten, du bist nicht einfach nur begabt, sondern – du weißt schon, was ich meine – begabt?«
Obwohl dieser Wortwechsel aus Gründen der Höflichkeit in Englisch geführt wurde, wollte sich sein Sinn dem chinesischen Dolmetscher nicht erschließen. Auf eine Frage von Li Yi reagierte Yuan Xi nur mit Achselzucken.
Francisco wandte sich dem Abt zu und wiederholte sein Ansinnen. »Mein Bruder wird auch das Wolkenheimkloster mit einer großzügigen Spende bedenken, wenn man uns die unfertigen Tafeln sehen lässt. Könnten Sie bei den zuständigen Stellen ein gutes Wort für uns einlegen, wenn wir versprechen unsere Neugier nur auf eine einzige Höhle zu beschränken?«
Der Abt musterte die beiden Europäer argwöhnisch. »Die Höhlen sind
Weitere Kostenlose Bücher