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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nicht ohne Grund versiegelt. Schwere, schlosslose Steintüren versperren ihre Eingänge«, begann er endlich und Francisco sank schon der Mut, aber dann fügte Yi vermittels Xi hinzu: »Allerdings wüsste ich einen Weg, wie Sie dennoch einen Blick in eine der Höhlen werfen könnten.«
    Die Strecke von Peking zum Wolkenheimkloster betrug zwar nur etwa achtzig Kilometer, aber der VW Passat, den Professor Xi für die Tour organisiert hatte, benötigte dafür geschlagene drei Stunden. Zu allen Zeiten hätten Klostergründer, egal welcher Glaubensrichtung, ein Faible für unzugängliche Orte gehabt, begründete er die nicht eben komfortable Verkehrsanbindung der Einsiedelei. Er nutzte die Fahrtzeit für einen geschichtlichen Überblick. Yunjusis Gründung gehe auf das sechste Jahrhundert christlicher Zeitrechnung zurück, erklärte er. Im Zweiten Weltkrieg hätten es die Japaner bombardiert, aber von den Zerstörungen sei nichts mehr zu sehen, die Ruinen inzwischen wieder aufgebaut, abgesehen von der Südpagode. Deren mächtige Schwester im Norden des Klosterbezirks sei während der Luftangriffe wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Die Entdeckung der steinernen Bibliothek gehe auf einen Fund aus dem Jahr 1956 zurück. Damals hatte man in einer benachbarten Dorfschule eine Stele entdeckt, die einen bemerkenswerten Satz enthielt: »Vor dieser Pagode, einen Schritt entfernt, gibt es in einer unterirdischen Krypta Sutrensteine, und zwar viertausendfünfhundert Stück.«
    Obwohl Schnelligkeit nicht unbedingt zu den Tugenden des sozialistischen Behördenapparats gehöre, hätten sich bereits kurz darauf Pekinger Forscher nach Yunjusi aufgemacht, erklärte Xi und gestattete sich ob seines kleinen Seitenhiebs gegen das herrschende System, dem er selbst angehörte, ein breites Grinsen. Bald sei man vor der Südpagode auf einen sensationellen Fund gestoßen. Niemand habe sich beschwert, als am Ende zehn- und nicht nur viereinhalbtausend Tafeln geborgen worden waren.
    Francisco hörte vom Rücksitz her nur mit einem Ohr zu. Er war ausgesprochen nervös an diesem Tag und er wusste auch warum: Welle Nummer fünf näherte sich ihrem Höhepunkt. Es war Vicente, der ihn darauf hingewiesen hatte. Dank der genauen Protokollierung der bisherigen Wellen konnte der Archäologe inzwischen die Intervalle genau vorausberechnen. Inzwischen vermochte auch Francisco dieses Auf und Ab ganz gut abzuschätzen, weil es einen direkten Zusammenhang zur Intensität seiner besonderen Fähigkeiten gab. Momentan fühlte er sich in der Lage, einen ganzen Berg aus dem Gleichgewicht zu bringen, was ihn jedoch nur umso mehr beunruhigte. Noch immer verspürte er eine unerklärliche Scheu gegenüber den eigenen Gaben, ein regelrechtes Schamgefühl. Nicht einmal mit seinem Bruder hatte er darüber gesprochen, abgesehen von dem Hinweis auf seine erstaunliche Findergabe. Diese würde bestimmt von dem Hoch, das er augenblicklich durchwanderte, profitieren. So jedenfalls hoffte Francisco, denn es wäre ihm peinlich gewesen, sich vor den Mönchen zu blamieren.
    Das Wolkenheimkloster lag an einem kleinen Fluss unterhalb einer Bergkette. Es war ein Ort der Stille, mitten in der Natur, der für ein besinnliches Klosterleben wie geschaffen schien. Kaum vorstellbar, dass hier einmal hunderte von Mönchen mit eisernen Werkzeugen Tafeln aus dem Fels geschlagen und sie mit Millionen von Schriftzeichen bedeckt hatten. Die jetzigen Bewohner des Klosters waren in zweifarbige lange Gewänder aus hell- und dunkelbraunem Stoff gekleidet. Den europäischen Besuchern begegneten sie mit Scheu, aber Professor Yuan Xi schien auch hier kein Fremder zu sein. Er hatte innerhalb von fünf Tagen alle behördlichen Genehmigungen besorgt und über den Bürgermeister des Nachbardorfes schon Instruktionen über die Absichten der beiden »spanischen Forscher« vorausgeschickt. Vicente war seinerseits auch nicht untätig geblieben. Aus Japan hatte er – den modernen Kurierdiensten, die inzwischen auch das Reich der Mitte belieferten, sei es gedankt – einige elektronische Ausrüstungsgegenstände besorgt.
    Der kahlköpfige Abt des Wolkensteinklosters hieß Wu Mengfu. Er war hochbetagt, wobei sich sein tatsächliches Alter schwer schätzen ließ – irgendetwas zwischen siebzig und achtzig. Mit seiner fast schon beängstigend schmächtigen Gestalt entsprach er schon eher den überkommenen Klischees, denen zufolge ein asketischer Chinese ungefähr das Gleiche sein musste wie ein geiziger

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