Die unsichtbare Pyramide
Schotte. Nach einer kleinen Klosterführung, um die ihn niemand gebeten hatte, geleitete der Abt die Gäste zu den Höhlen hinauf. Es war inzwischen früher Nachmittag.
Wu Mengfu zeigte den Besuchern zunächst die Donnerklanghöhle. Eine schwere, rot lackierte Holztür versperrte den Zugang. Rechts daneben war eine Inschrift in den Fels gemeißelt, die dem Klostervorsteher zufolge aus dem Jahr 628 nach Christus stammte. Sie warnte in unheilschwangeren Worten vor jenem »nahen Ende der Menschheit und der bevorstehenden Finsternis der Welt«, die zuvor schon Li Yi in Peking angesprochen hatte.
»Darf ich zuerst die anderen Höhlen sehen?«, bat Francisco, als der Mönch das Portal zur Donnerklanghöhle öffnen wollte.
»Die sind versiegelt«, sagte der Abt. Trotz der Instruktionen des Bürgermeisters hatte er offenbar immer noch nicht verstanden, was die Fremden wollten.
»Das ist mir bekannt«, erwiderte Francisco.
Der Mönch seufzte und deutete den Berg hinauf.
»Ich will nicht indiskret sein«, sagte Professor Xi, während er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, neben Vicente dahinschritt, »aber Ihr Bruder sagte neulich etwas von einer Neuordnung der Zeitalten. Was meinte er damit?«
Francisco spitzte die Ohren.
Vicente zögerte. »Im Grunde etwas, das fast so alt wie die Menschheit selbst ist«, antwortete er zunächst sehr bedächtig, um dann aber schnell in Fahrt zu kommen. »Seit jeher gibt es in allen möglichen Kulturen Prophezeiungen und andere Überlieferungen von einer solchen Neuordnung. Denken Sie nur an die Sintflutlegenden, die sich bei den Völkern rund um den Globus finden lassen. Mit den Weltuntergangsmythen ist es ähnlich. So glaubten die Indianer an bestimmte Zyklen, in denen sich eine völlige Veränderung der Welt vollziehe – möglicherweise sogar ihr Untergang. Den Legenden der mesoamerikanischen Urbevölkerung zufolge haben schon vier große Katastrophen die Menschheit heimgesucht. Die fünfte, eine Erschütterung der Erde von unvorstellbarem Ausmaß, steht noch aus.«
»Dann sammeln Sie also Endzeitberichte?«
»Das ist eher ein Randgebiet meiner Forschungen. Ein Mediziner versucht auch zu erfahren, wie der Körper von einem gefährlichen Erreger zerstört wird, um selbigen dann wirkungsvoll zu bekämpfen. Auf meinem Gebiet ist es ähnlich: Wenn man genau weiß, wie sich die ganze Menschheit in die Finsternis stürzen lässt, erkennt man vielleicht auch den Weg zum Licht.«
»Ein anerkennenswertes Ziel«, lobte Xi mit einem wohlwollenden Lächeln. »Haben Sie es schon mit Kommunismus probiert?«
Inzwischen hatte die vierköpfige Prozession die zweite Höhle erreicht. Den Zugang in ihr Inneres versperrte ein wuchtiges Steintor; weder Schloss noch Riegel ließen sich entdecken. Wie der Abt erklärte, verhielt es sich bei den übrigen sieben Kammern ebenso. Welches Wissen auch immer sie bargen, es sollte bis zu jenem fernen Tag bewahrt werden, da die Welt aus der angekündigten Finsternis neu erstanden war.
Francisco stellte sich vor das Portal. Die Versiegelung war keineswegs perfekt. An den Rändern der dicken Verschlussplatte entdeckte er etliche Spalten, die zumindest Käfern und anderem Kleingetier freien Zugang zum Klosterschatz gewährten. Ob auch er sich auf seine Weise Zugang verschaffen konnte? Er schloss die Augen.
Vicente beobachtete ihn gespannt. Professor Xi, mit Leib und Seele Wissenschaftler, runzelte argwöhnisch die Stirn. Der buddhistische Abt deutete das Verhalten des Gastes als meditative Versenkung zum Zwecke der Aktivierung kosmischer Energien und somit als eine alltägliche Verrichtung. Das dreifache Beobachtetsein machte Francisco noch nervöser. Er konnte weder sagen, ob sich hinter der steinernen Tür der Schlüssel zur Neuordnung der Zeitalter befand, noch vermochte er es auszuschließen.
»Klingelt’s?«, fragte Vicente, weil ihm das Zögern seines Bruders unerträglich wurde.
»Ich kann mich nicht konzentrieren«, antwortete Francisco.
»Vielleicht gibt es ja nichts in dieser Höhle, das deine Kompassnadel zum Ausschlagen bringt. Lass uns zur nächsten Kammer weitergehen und es dort versuchen.«
Um es kurz zu machen: Auch die folgende Höhle gab sich nicht durch Visionen oder Eingebungen zu erkennen, geschweige denn durch ein Klingeln. Bei den restlichen sechs verhielt es sich nicht anders.
Xi grinste, weil er seine Skepsis bestätigt fand, Vicentes Miene tendierte zu tiefstem Schwarz, weil seine Hoffnung enttäuscht worden war, und
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