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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Jahren der Haft, dass die Blume vom Nil noch Freunde und Bewunderer hatte, wodurch sie mitunter Erleichterung und auch manches Geheimnis erfuhr, aber ihre Freiheit konnte ihr niemand wiedergeben. Obwohl ihr Wille ungebrochen war, versagte zuletzt ihr gepeinigter Körper den Dienst.
    Gisa hatte den Bericht mehrmals unterbrechen müssen, weil das Sprechen sie zunehmend schwächte. Wira wischte ihr den kalten Schweiß von der Stirn, half ihr in eine bequemere Lage oder gab ihr einen Schluck Wasser. Zweimal bat Topra seine Mutter zu schweigen und sich auszuruhen, aber sie weigerte sich, wohlwissend, dass ihre Zeit ablief.
    »Es ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht!«, schnaubte er, als sie zum Ende gekommen war.
    »Die Kaiserin hat deine Mutter hier still und heimlich verdorren lassen, ohne ihr je ein Gerichtsverfahren zuzugestehen«, kommentierte Wira bitter das Lebenstelegramm der einst schönsten Frau von Baqat.
    Noch einmal mobilisierte Gisa ihre letzten Kraftreserven und bewegte die Lippen. Topra musste sein Ohr ganz nah an ihren Mund bringen, um sie zu verstehen. »Nimm meinen Segen und fasse Mut, Topra! Das Licht, das uns nach deiner Geburt umfangen und unsere Feinde zu Boden geschmettert hat, machte dich zu einem Auserwählten. Nutze deine Gaben zum Guten und tue, was getan werden muss. Mein Blut klebt an Ibah-Ahitis Händen und es kommt der Tag, da du es von ihr zurückfordern wirst. Doch… wenn sie auch die personifizierte Niedertracht sein mag, geht die eigentliche Gefahr doch von Isfet aus. Lass diesen so genannten Herrscher der Welt nicht ungeschoren davonkommen. Es geht… geht nicht allein um Rache… nicht um mein Leben, das er mir gestohlen hat, sondern um Baqat – vielleicht sogar um das Schicksal der ganzen Menschheit. Isfets Machtgier kennt… kennt keine Grenzen. Ich weiß… Du hast mir von deinen Visionen erzählt und von den Worten der Orakelwächterin. Das alles… Dein Vater hat freien Zugang zur Kammer des Wissens, die dein Mammisi war. Auch er kennt viele der alten Geheimnisse. Nimm dich in Acht, Topra, aber lasse ihn und Ibah-Ahitis Bastard nicht gewähren. Es wäre euer aller… Ende.«
    Gisas Kopf sank zur Seite.
    »Mutter!«, schrie Topra, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste es zwei-, dreimal. »Mutter, du darfst noch nicht gehen! Wir haben uns doch gerade erst…«
    Zu Topras Erstaunen öffnete die Sterbende noch einmal die Augen und hob sogar den Kopf. Ihr Blick schien durch den über sie gebeugten Sohn hindurchzugehen, als sie wie im Fieber hervorstieß: »Gehe zu ihm… zu Ptah. Heth-ka-Ptah! Ergreife seine Zepter…«
    Gisas Haupt fiel ins Kissen zurück, ihre Augen starrten gebrochen nach oben. Topra spürte Wiras Hand auf der Schulter, hörte sie sagen: »Ihr Leiden ist jetzt zu Ende.« Aber sein Herz sträubte sich noch gegen die Wahrheit, die sein Verstand längst begriffen hatte: Seine Mutter lebte nicht mehr. Isfet und Ibah-Ahiti hatten sie in diesem jahrtausendealten Kerker zu Tode gequält. Topras Körper bebte. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie den Schmerz hinaus. »Mutter, bitte, bitte bleib! Warum verlässt du mich!? Ich brauche dich! Mutter…«
    Ein Weinkrampf erstickte das verzweifelte Stammeln. Kraftlos fiel sein Kinn auf die Brust. Minutenlang spürte er nicht einmal Wiras streichelnde Hand auf dem Rücken und ihre tröstenden Worte blieben ungehört. Erst allmählich, wie aus weiter Ferne, drang sie wieder zu ihm durch.
    »… bist schon seit ungefähr einer Stunde hier. Wie lange hat man dir Zeit gegeben, Topra?«
    Er wandte der Hebamme das tränenfeuchte Gesicht zu. »Was?«
    Sie deutete mit dem Finger zu einer Kamera, die unter der Decke hing. »Wenn du nicht rechtzeitig gehst, werden sie dich entdecken. Wann hat die Wächterin dich zur Geheimtür bestellt?«
    »Um… fünfzehn Minuten nach elf.«
    Wira blickte auf ihre Armbanduhr. »Dann wird’s höchste Zeit. Du musst gehen, Junge. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie weh so etwas tut, aber du kannst den letzten Willen deiner Mutter nicht erfüllen, wenn du noch eine Minute länger an ihrem Bett weinst.«
    »Sollen sie mich doch fangen. Dann kann ich ihr ins Haus der Toten folgen.«
    »Red keinen Unsinn!«, herrschte Wira den benommenen Jüngling an. »Du darfst ihr Andenken und alles, woran sie je geglaubt hat, nicht zerstören, indem du dich jetzt aufgibst.«
    Die strengen Worte der Hebamme zeigten Wirkung. Topra nickte müde, schloss die starr nach oben gerichteten Augen seiner

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