Die unsichtbare Pyramide
betrachtete sorgenvoll Gisas verhärmtes Gesicht. Sie hielt noch immer seine Rechte umklammert und drückte sie an ihre Brust. Hobnuths beunruhigende Äußerung aus dem Fahrstuhl war nur allzu frisch in seinem Gedächtnis. Er ahnte das Schlimmste, fragte aber trotzdem: »Was ist mit dir, Mutter?«
Gisa lächelte schwach. »Ich sterbe.«
»Nein…!«
»Pscht! Lass uns nicht darüber streiten, Topra. Im Vergleich zu dem, was ich in den letzten achtzehn Jahren in diesem Kerker durchgemacht habe, ist der Tod ein willkommener Freund. Und nun, da ich dich noch einmal Wiedersehen durfte, werde ich ihn mit einem Lächeln begrüßen. Der gute Hobnaj hat dich uns in seinem letzten Kassiber angekündigt und schon ein paar Dinge über dich berichtet. Das hat mir Kraft gegeben, bis heute durchzuhalten. Aber nun erzähle bitte selbst. Wie ist es dir ergangen in all den Jahren?«
Es fiel Topra nicht leicht, am Sterbebett der eigenen Mutter über sein Leben zu plaudern. Doch gerade dadurch glimmte das ihre noch einmal auf wie ein bereits erloschener Kerzendocht, den der Atem eines Menschen trifft. Er streifte nur die Meilensteine auf der achtzehnjährigen Etappe, die im Hafen von Memphis begonnen hatte und in derselben Residenzstadt endete.
Als seine Stimme verstummte, weil er gegen die Tränen ankämpfen musste, war es wieder Gisa, die ihren Sohn tröstete. Sie zog ihn zu sich heran und während sie einander umarmten, flüsterte sie in sein Ohr: »Meine Liebe war stärker als Ibah-Ahitis Bosheit. Die Kaiserin mag mich besiegt haben, doch sie konnte nicht die Frucht dieser Liebe zerstören: dich, Topra! Du bist Pharao Isfets Sohn und ich verrate dir ein Geheimnis: Aabuwa, der vermeintliche Erstgeborene des mächtigen Herrschers von Baqat, ist der wirkliche Bastard. Tatsächlich ist General Waris sein Vater, der Oberste der Leibgarde.«
Hobnaj hatte den illegitimen Spross des Pharaos zwar schon über seine Familienverhältnisse aufgeklärt, aber dabei war Topra nie der Gedanke gekommen, sich als Thronerben zu sehen. Fassungslos blickte er in Gisas graues Gesicht. »Warum sagst du das, Mutter? Isfet hat viele Söhne und ich bin nicht daran interessiert, seine Nachfolge anzutreten.«
Gisas Kopf wackelte auf dem Kissen hin und her. »Nein. Ibah-Ahiti hat vor deiner Geburt immer dafür gesorgt, dass sämtliche Konkubinen nur Mädchen zur Welt brachten. Weil ich Isfets Favoritin war, konnte ich mich jedoch um diese ›Sonderbehandlung‹ im Mammisi drücken. Dadurch wurde mir der Erstgeborene des Pharaos geboren und nicht der ehebrecherischen Kaiserin.«
»Aber die Kinder der Nebenfrauen sind von der Thronfolge ausgeschlossen.«
»Es hat schon früher so genannte Bastarde gegeben, die rechtlich anerkannt wurden.«
»Mir liegt nichts am Titel des Pharaos.«
Wieder schüttelte Gisa den Kopf. Ihre Bewegungen wurden immer schwächer. Sie musste erst bei geschlossenen Augen Kraft sammeln, um ihre starre Haltung zu erklären. »Dein Glück ist mir heilig, Topra. Ein zufriedenes Dasein auf einem Schiff wie der Tanhir ist nicht weniger ehrenvoll als das eines Fürsten oder des Pharaos. Für den kleinen und den großen Mann beginnt das wirkliche Leben aber erst da, wo er es für andere lebt. Der Fischer sollte Fische fangen, damit seine Mitmenschen satt werden, und ein Herrscher regieren, damit seine Untertanen in Gerechtigkeit, Glück und Frieden leben können. Und genau darin haben Isfet und die meisten seiner Vorgänger versagt. Stattdessen brachten sie aus Eigennutz Willkür, unsäglichen Schmerz und Krieg über die Menschheit.«
Ausgehend von diesem vernichtenden Urteil berichtete Gisa nun von ihren langen Jahren der Gefangenschaft. Anfangs hatte sie noch geglaubt, Isfet müsse nur erfahren, was für ein Spiel seine teure Gemahlin mit seiner Lieblingskonkubine trieb. Aber ihre Illusionen zerstoben, als Hobnaj seine erste Nachricht in den Kerker schmuggelte. Daraus erfuhr sie, dass der Pharao alles billigte, was Ibah-Ahiti ihrer persönlichen Gefangenen antat, und das war mehr, als mancher Mensch hätte ertragen können. Was die Kaiserin als kurzweiliges Amüsement ansah, bedeutete für Gisa grausame Folter. Hin und wieder ließ Isfet ihr zwar Vergünstigungen zukommen – einen Tisch, den Schemel, Bücher –, doch Ibah-Ahiti verwandelte sogar die dadurch aufkeimende Hoffnung noch in eine glühende Torturnadel, indem sie jegliche Zuversicht gleich wieder durch noch unmenschlichere Behandlung zerstörte. Immerhin zeigte sich in den
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