Die unsichtbare Pyramide
einem Danke betrat er das geheime Verlies.
Pharao Djosers Kerker war mit überraschender Sorgfalt aus dem Fels getrieben worden. Boden, Wände und Decke, allesamt auffallend glatt, fügten sich in perfekten rechten Winkeln aneinander. Topra entdeckte über seinem Kopf Kabelschächte und andere technische Einrichtungen, die nicht älter als zwanzig Jahre sein konnten. Die Luft war weniger stickig als in dem Tunnel vor der Geheimtür.
Nachdem er etwa zehn Schritte weit gegangen war, trat er in einen hell erleuchteten rechteckigen Raum, von dem mehrere dunkle Gänge abzweigten. Hier schmückten eingravierte Hieroglyphen und Bilder die Wände. Vermutlich hatten sie Djosers »Gäste« daran erinnert, wem sie ihre Unterbringung verdankten. Eine Darstellung zeigte den Pharao, wie er seinen Fuß in den Nacken eines unterworfenen Feindes stellte. Linker Hand zweigten drei Gänge ab, jedoch nur in einem konnte der Besucher ein fernes Licht erkennen. Auf dieses ging er zu.
Die Zellen auf der rechten Seite des Flures standen alle offen; ihre Türen existierten nicht mehr. Weitere dreißig oder vierzig Schritte später passierte Topra einen Wachraum, dessen offen stehende Tür die einzige Lichtquelle des Flurs darstellte. Er entsann sich Hobnuths strenger Anweisung und richtete den Blick starr geradeaus. Nur aus den Augenwinkeln nahm er die taubenblaue Gestalt in der Stube wahr; eine Zeitung verdeckte ihr Gesicht.
Endlich kam er zum Ende des Ganges. Die Tür dort war nur angelehnt. Aus irgendeinem Grunde rechnete wohl niemand mit einem Fluchtversuch der Gefangenen. Zaghaft öffnete Topra die Tür.
Aus der Zelle blickten ihm zwei Frauen unterschiedlichen Alters entgegen. Die jüngere lag auf einer Pritsche, die ältere saß davor auf einem Schemel und war gerade dabei, einen Lappen in eine weiße Emailleschüssel zu tauchen, die sie auf dem Schoß hielt. Die Szene war unverkennbar: Hier wurde ein kranker Mensch gepflegt. Sie hätten keinen Moment später kommen dürfen. Die Worte der Beamtin Hobnuth bekamen plötzlich eine beängstigende Dimension. Topras Knie wurden weich. Unzählige Male hatte er sich diesen Moment in Gedanken ausgemalt, aber die Wirklichkeit war ganz anders.
»Mutter?« Seine Beine klebten am Boden fest. Er konnte kaum mehr als die Lippen bewegen.
»Topra!«, hauchte die Frau auf der hölzernen Liegestatt. Gisa war nach Hobnajs Angaben einundvierzig Jahre alt, aber sie wirkte hinfällig wie eine Greisin. Ihre ehemalige Schönheit konnte man bestenfalls noch erahnen. Das dunkle Haar war fast so kurz wie bei einem Mann, das Gesicht eingefallen, die schwarzen Augen stumpf.
»Jetzt komm endlich und begrüße deine Mutter. Sie hat bis jetzt durchgehalten, weil sie dich erwartete, aber allmählich läuft ihre Zeit ab«, sagte die Frau auf dem Schemel. Sie hatte eine tiefe, ziemlich energische Stimme.
Topra konnte seine Beine dazu bewegen, sich wieder in Gang zu setzen. Taumelnd näherte er sich dem Bett.
Die Frau mit der Wasserschüssel erhob sich und deutete auf den Schemel. »Setz dich zu deiner Mutter, Junge, sonst kippst du mir noch aus den Latschen. Und glotz mich nicht so an, als wäre ich eine gestrandete Walkuh. Du fragst dich, wer ich bin, nicht wahr?«
Topra nahm auf dem dreibeinigen Hocker Platz. »Ich dachte, eine Pflegerin, aber…«
»Dafür bin ich zu vorlaut, was? Vielleicht hat Hobnaj dir von mir erzählt. Mein Name ist Wira.«
Er fühlte, wie seine Hand von knöchernen Fingern umschlossen wurde und eine sanfte, sehr leise Stimme sagte: »Sie hat dich zur Welt gebracht, Topra.«
Sein Kopf wandte sich Gisa zu. »Entschuldige, aber das ist alles ein bisschen viel für mich. Wie kann deine Hebamme hier sein, im Millionenjahrhaus? Ist sie eine Mitgefangene, die man dazu verdonnert hat…?«
»Niemand sperrt mich in einen Kerker ein«, widersprach Wira, noch ehe Topra seine Gedanken vollständig ausgesprochen hatte. Sie mochte Mitte fünfzig sein und ging ihm nur bis zur Schulter, gehörte jedoch zu jenem resoluten Typ Frau, mit dem man sich am besten gut stellte, um sich keine blutige Nase zu holen. Nicht ohne Wehmut erklärte sie: »Hobnaj hat sich nach deiner Geburt um mich gekümmert. Der Ebenholzklotz hat mehr Einfluss, als man ihm zutraut. Nach ein paar Jahren im Ausland sorgte er für meine Rückkehr an den Hof. Seitdem bin ich ihm und seiner Bewegung in mancher Hinsicht nützlich gewesen. Aber verplempern wir die Zeit nicht mit mir. Deiner Mutter geht es nicht gut.«
Topra
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