Die unsichtbare Pyramide
Chef, General Waris, eilte zum Ort des Anschlags.
Man sicherte die Bresche ab, obwohl die Kameras keine Eindringlinge gezeigt hatten. Auch war keine Explosion zu hören gewesen. Was hatte die Mauer zum Einsturz gebracht?
Während sich die Palastwache noch der Einsicht näherte, dass wieder einmal der beklagenswerte Zustand einer jahrtausendealten Bausubstanz an dem Zusammenbruch schuld sein müsse, entstand an einer anderen Stelle, ungefähr eine halbe Meile weiter südlich, ein zweites Loch. Hier wurden nur die untersten zwei Lagen der Mauer, direkt über dem Boden, herausgerissen. Als rutschten die Quader eine Böschung herab, rasten sie quer über die Straße und durchschlugen die Wand eines Lagerhauses, in dem sie schließlich liegen blieben. Nur wenige Augenblicke davor hatte sich bereits die Überwachungskamera auf der Mauerkrone in ihrem Gelenk zur Seite und leicht nach oben geneigt, was den Blickwinkel ihres Objektivs geringfügig veränderte.
Topra huschte im blinden Fleck des gläsernen Auges durch die Halbschatten am Fuß der Mauer, schlüpfte durch das eben entstandene Loch und sah sich in geduckter Haltung um. Die elektronischen Spione des Palastes hatten einen Schwachpunkt. In ihrem Innern befand sich ein Leuchtelement, vielleicht eine Diode, deren Licht im Dunkeln schwach nach außen drang. Dadurch entdeckte der Eindringling mit dem erstaunlichen »Gleichgewichtssinn« nach kurzer Orientierung eine zweite Kamera, deren Objektiv den Weg unter der Mauer abdeckte. Abgedeckt hatte. Jetzt war es zur Seite verrutscht und lieferte das eintönige Bild aufeinander geschichteter Sandsteinblöcke.
Rasch lief Topra in den Schatten eines nahen Baumes, wo er sich noch einmal den Plan vom Millionenjahrhaus ins Gedächtnis rief. Dann setzte er seinen Weg zum Heth-ka-Ptah fort. Das Haus der Götter Ka und Ptah lag etwa zwei Meilen von seiner gegenwärtigen Position entfernt. Um dorthin zu gelangen, musste er über Wiesen laufen, Wege kreuzen und Haine durchqueren. Er konnte sich längst nicht sicher sein, alle Überwachungskameras zu entdecken und unbemerkt von den Menschen im Kontrollraum zu verbiegen, aber so weit dachte Topra auch gar nicht. Der Zorn über den Tod seiner Mutter trieb ihn voran. Er war es ihr schuldig, von Isfet Rechenschaft zu fordern. Der Pharao sollte ihm, dem eigenen Sohn, ins Gesicht sagen, warum er Gisa, die von ihm angeblich so geliebte Blume vom Nil und die Mutter seines Erstgeborenen, in einem Verlies hatte zugrunde gehen lassen. »Vielleicht«, flüsterte Topra, während seine Hand nach dem Dolch an seinem Gürtel tastete, »werde ich dir meine Klinge an den Hals setzen, damit du einmal spürst, was richtige Todesangst ist.« Und danach? »Das wird sich zeigen«, zischte er und verstellte eine weitere Kamera.
Auf seinem Weg ins Zentrum des Millionenjahrhauses spielte er mit dem Gedanken, direkt zum Hauptpalast zu laufen, verwarf diese Idee aber schnell wieder. Der Einsturz der Grenzmauer hatte zwar kurzzeitig für Verwirrung gesorgt und die Leibgarde abgelenkt, aber diese Phase dürfte längst vorüber sein. Vermutlich wurde die Bewachung der Gemächer des Pharaos jetzt sogar verstärkt. Nein, er musste den Tempel finden, um von dort aus direkt in Isfets Schlafgemach vorzudringen.
Kapitän Jobax hatte seinem Zögling beigebracht sich anhand von Karten zu orientieren, und so navigierte Topra sicher durch den Park. Es gab nur wenige völlig finstere Stellen, weil einerseits der Vollmond hoch am Himmel stand und andererseits die Wege und Gebäude mit Laternen gesäumt waren. Als Topra eine Baumgruppe umrundete, tauchte vor ihm Heth-ka-Ptah auf, ein prunkvoller Tempelpalast, dessen Wände und Säulen mit vielfarbigen Fayencekacheln geschmückt waren. Die bunte Zinnglasur glitzerte im Licht zahlreicher Scheinwerfer. Topra verschlug es die Sprache. Er war regelrecht geblendet von der Pracht des Heiligtums und zugleich gelähmt von dem Verdacht, in eine wunderbar illuminierte Falle zu laufen. Sorgfältig hielt er nach Kameras oder Bewegungsmeldern Ausschau, aber obwohl Hobnaj hier das Ende eines Geheimgangs aus dem Hauptpalast vermutet hatte, ließen sich keine entdecken.
»Du Trottel. Gerade deshalb gibt es sie hier nicht!« Die Erkenntnis ließ Topra diebisch kichern. Diktatoren waren von Natur aus misstrauisch, Isfet machte da bestimmt keine Ausnahme. Er musste befürchten, dass selbst seine geheimen Besucher im Protokoll des Griffelhalters vermerkt wurden, sobald die Tempelwache sie auf
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