Die unsichtbare Pyramide
Vermutlich hatte er in ihren Augen ein unverzeihliches Sakrileg begangen.
»Wir sollten jetzt wirklich verschwinden«, erinnerte Trevir sie noch einmal an den Grund seiner Hast.
Aus der Halle auf der anderen Seite des Innenhofs erschollen bereits Schritte.
Ceobba und seine Mannen waren zu Stein erstarrt.
Trevir schüttelte ärgerlich den Kopf und neigte sich zum Chef herab. »Bin ich nun der Empfänger oder nicht? Ich habe gerade dieses Buch in Empfang genommen. Wenn Ihr in mir den Zurückgekehrten seht, dann gesteht mir auch das Recht zu, damit zu tun, was ich für richtig halte.«
»Vergib mir, wenn ich deiner Entscheidung vorgreifen sollte, Chef, aber was der ehrenwerte Trevir da eben gesagt hat, dürfte auf der Grundlage geltenden Rechts wohl schwer anzufechten sein.«
Ceobba wandte sich seinem Ersten Parömiographen zu. »Entschuldige, Dambaragh, aber deine Ratschläge waren auch schon mal klarer formuliert.« Dann sagte er zu Trevir und Dwina: »Kommt!«
Im Laufen lösten die Badda die Knebel, mit denen ihre Umhänge an der Kleidung befestigt waren, legten sie mit wenigen geschickten Handgriffen zusammen und verstauten sie unter ihrer erstaunlich elastischen schwarzgrauen Kleidung. Dwina und Trevir brauchten etwas länger für die gleiche Übung, wobei ihnen ihre weiten Überwürfe eher hinderlich als nützlich waren. Zumindest ließ sich Abacucks Buch ohne Schwierigkeit in den Falten über Trevirs Brust verstauen.
Als sie gerade die Rotunde verlassen und in den Innenhof laufen wollten, erschienen Fackeln in der offenen Tür der gegenüberliegenden Halle. Trevir entdeckte vor den Lichtern die unverkennbaren Silhouetten zweier Männer. Der eine hielt ein großes Schwert in der Hand und hinter dem Ohr des anderen ragten mehrere gefiederte Pfeilschäfte hervor.
»Molog und Wulf!«, raunte er zur Warnung für Dwina und seine kleinen Gefährten, obwohl das völlig unnötig war.
»Hier kommen wir nicht mehr raus«, jammerte leise das Mädchen an seiner Seite.
Ceobba schüttelte erstaunlich gelassen den Kopf. »Verzeiht, wenn ich widerspreche, aber wir Badda sind hier zu Hause, nicht diese Krieger. Folgt mir.«
Der Chef drehte wieder um und lief in die Rotunde zurück. Trevir hörte ein leises Klimpern.
»Was tut Ihr da, Ceobba?«
»Den Schlüssel für den Geheimausgang suchen.«
»Wo soll der sein?«
»Dort!« Der Badda deutete zu einer Regalwand.
»Ich sehe nur Bücher.«
»Entschuldigt, aber es wäre ja wohl kaum ein Geheimausgang, wenn ihn jeder sähe.«
Trevir verdrehte die Augen. »Habt Ihr den Schlüssel?«
»Gleich.«
»Welches Regal ist es?«
»Das zweite von links da drüben. Aber untersteht Euch…«
Mit lautem Krachen flogen der komplette Türstock, etliche Steine und zahlreiche Bücher in den Innenhof. Eine mächtige Staubwolke breitete sich in der Rotunde aus.
»Tut mir Leid, aber ich brauchte das Gewicht des Mauerwerks, um das Loch zu machen«, entschuldigte sich Trevir. Er ahnte, welche seelischen, vielleicht sogar körperlichen Schmerzen er den Badda mit seinen Grobheiten zufügte.
Der Chef und sein Gefolge taumelten fassungslos durch die Bresche. Plötzlich hallte eine Stimme durch den Saal.
»Trevir!« Es war Wulf. Er musste gespürt haben, wessen Kräfte hier so viel Staub aufgewirbelt hatten.
Der Angerufene blieb in der Öffnung stehen, bedeutete den Gefährten vorauszulaufen und drehte sich um. Die Fackeln der schwarzen Krieger ließen die Staubwolke erglühen, aber man konnte die Rotunde mit Blicken nicht durchmessen. Trevir raffte die Schultern und rief: »Dies ist ein ungünstiger Zeitpunkt, Wulfweardsweorth, doch spätestens wenn die Stunde der Entscheidung gekommen ist, treffen wir uns wieder. Das gelobe ich beim Blute Aluuins.«
Damit wandte er sich um und folgte seinen Gefährten in die Dunkelheit.
Der Boden unter der Verbotenen Stadt glich einem Kaninchenbau: zahllose Gänge und überall Löcher. Ehe Mologs Männer die zehn Flüchtlinge auch nur zu Gesicht bekommen konnten, waren die schon in einem Tunnel verschwunden. Der Eingang dazu lag im Keller eines Gebäudeflügels, der von den Kriegern noch nicht kontrolliert wurde, und war so gut verborgen, dass eine Verfolgung gar nicht erst stattfand. Das Schwarze Heer würde notgedrungen nach anderen Zugängen ins Tunnelreich suchen müssen. Dadurch gewannen die Fliehenden wertvolle Zeit.
Auf dem Rückweg zum unterirdischen Palast wurde nicht viel gesprochen. Auch Trevir grübelte über die jüngsten Ereignisse
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