Die unsichtbare Pyramide
Dwina, deren Gesicht sich ganz nahe neben Trevirs und auf Nasenabstand über der Glasscheibe befand.
»Ich wünschte, Molog würde sich an diesem König Johann ein Beispiel nehmen und auch so ein Dokument unterschreiben. Ist dir die Jahreszahl aufgefallen? 3830 A. S. Was mag das bedeuten?«
»Vergebt mir, wenn ich mich in Euer Gespräch einmische«, meldete sich der alte Dambaragh aus dem Hintergrund zu Wort. »Abacuck lehrte uns, das alte Wissen zu bewahren. Londinor gehörte einst zum römischen Imperium. In der Zunge dieser alten Weltmacht stand die Abkürzung A. S. für anno scissuri, was in unserer Sprache etwa so viel wie ›im Jahr der Spaltung‹ oder ›Zerreißung‹ bedeutet.«
»Dann haben die Römer ihre Zeitrechnung von der Teilung des Triversums an gerechnet?« Trevir schüttelte den Kopf. Was für ihn bisher kaum mehr als eine Legende gewesen war, schien vor dem Untergang Londons zum Allgemeinwissen gehört zu haben. »Bitte sage mir, Dambaragh, wann genau wurde Londinor zerstört?«
»Unseren Aufzeichnungen zufolge vor dreihundertsechsunddreißig Jahren.«
Trevir ließ Dwinas Hand los, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich langsam um seine eigene Achse. Seit über dreihundert Jahren hüteten die Badda in dieser Rotunde des Wissens also schon das Vermächtnis Abacucks.
»Verzeiht, wenn ich Euer Staunen unterbreche, aber der eigentliche Grund unseres Hierseins befindet sich dort drüben.« Ceobba zeigte zu einem anderen gläsernen Tisch, der nicht etwa im Zentrum des Doms stand, sondern eher unscheinbar am Rand.
Ein Gefühl der Ehrfurcht überkam Trevir und steckte auch seine Begleiterin an. Rasch ergriff er wieder ihre Hand und schritt mit ihr langsam auf die Vitrine zu. Kein Staubkörnchen behinderte hier die Sicht auf das darin liegende Buch. Die neun Badda bildeten um das Paar herum einen Ring, damit ihre Glitzermäntel den beiden Menschenkindern Licht spendeten.
»Das Buch der Balance«, las Trevir leise den Titel auf dem braunen Ledereinband, der voller Narben und mit zahlreichen dunklen Flecken übersät war. Das legendäre Werk sah enttäuschend unspektakulär aus. Keine edel glänzenden Buchstaben, kein Goldschnitt, kaum größer als eine Handspanne und etwa so dick wie Dwinas Daumen. Auf den Rändern des Buchblocks konnte Trevir ein merkwürdiges Netzmuster sehen, das wohl auch einem Lurch nicht schlecht gestanden hätte.
Plötzlich scholl ein Geräusch in den Lesesaal, das alle Köpfe hochfahren ließ. Es klang wie ein fernes Krachen, dessen Widerhall sich in den Hallen fast verlor.
»Was war das?«, hauchte Dwina.
»Jemand hat die Tür des Hauptportals aufgebrochen«, sagte Ceobba.
»Wer?«, flüsterte Trevir.
Der Chef erinnerte sich. »Der Ziehsohn des Kriegslords? Verzeiht, wenn meine Worte wie Zweifel klingen, aber woher wollt Ihr wissen…?«
»Ich kann es spüren, Ceobba«, unterbrach Trevir hastig das Oberhaupt der Badda. »Außerdem war nur ein einziges Krachen zu hören. Mit Äxten hätten sie die schwere Tür nicht so schnell überwinden können, sondern nur mit der Kraft eines Empfängers. Wir müssen schleunigst hier verschwinden. Wie bekommt man diesen Glastisch auf?« Er rüttelte an dem Deckel, der sich seinem Zerren jedoch widersetzte.
»Verzeiht!«, kreischte Ceobba entsetzt, womit er bei Trevir sofort ein erschrockenes Innehalten erzielte. »Ich muss Euch um Zurückhaltung bitten, sonst zerspringt am Ende das Glas. An meinem Bund habe ich einen Schlüssel…« Er zog zum dritten Mal seinen klimpernden Ring hervor und beschäftigte sich mit dessen eisernen Anhängern.
»Geht denn das nicht schneller?«, drängte Trevir.
»Nur Geduld, junger Empfänger. Nur Geduld. Wo ist denn unser kleiner Bartträger, na, wo ist er denn…?«
»Beeilt Euch, Ceobba! Sie sind schon auf dem Weg…«
»Entschuldigung, aber ich kann mich so nicht konzentrieren!«, beschwerte sich überraschend energisch der Chef und vergaß darüber ganz das Suchen. Seine acht Begleiter sahen ihn überrascht an. Endlich setzte er seine Fahndung nach dem richtigen »Bartträger« fort. Jedoch nur kurz, denn ein ohrenbetäubendes Klirren störte ihn erneut.
»So viel Zeit haben wir nicht mehr«, erläuterte Trevir kurz den Hintergrund dessen, was er da eben mit dem Knauf von Aluuins Stab und der Deckscheibe des Glastisches angestellt hatte. Rasch fischte er Das Buch der Balance aus den Scherben und wickelte es in seinen silbergrünen Umhang ein.
Die Badda starrten ihn entsetzt an.
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