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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nicht die Absicht, Menschen zu töten«, sagte Topra leise.
    »Das glaube ich Ihnen, die Geheimpolizei dürfte das jedoch anders sehen. Aber keine Sorge. Ich bringe Sie sicher unter und besorge Ihnen einen guten Naturheiler. Er hat schon früher während meiner Sturm-und-Drang-Zeit gerne ausgeholfen, wenn er damit dem Amjib eins auswischen konnte.«
    »Für einen Mann, den der Kronprinz zu seiner Hochzeit eingeladen hat, scheinen Sie in merkwürdigen Kreisen zu verkehren.«
    »Wenn Sie Menschen, die sich das Selberdenken nicht verbieten lassen, so bezeichnen wollen, dann haben Sie wohl Recht. Vorsicht! Wir sind jetzt bei meinem Wagen angelangt. Kopf einziehen und hinein mit Ihnen!«
    Topra ließ sich in ein Fahrzeug bugsieren und nahm auf weichen Ledersitzen Platz. Eine Klimaanlage sorgte für angenehme Temperaturen und gefilterte Luft. Der anonyme Freund gab einen Befehl und die Limousine setzte sich leise in Bewegung. Schon nach wenigen Minuten fiel Topra in einen unruhigen Schlaf.
     
     
    »Morgen komme ich noch einmal und wechsle den Verband. Sie haben wohl noch mal Glück gehabt.«
    »Werde ich wieder sehen können?«, fragte Topra lahm. Es klang nicht gerade so, als sei er ernsthaft an einer Antwort interessiert.
    »Ich kann noch nichts Endgültiges sagen«, antwortete der Heiler ruhig. »Ihre Hornhaut hat – salopp ausgedrückt – einen starken Sonnenbrand abbekommen. Wenn sich keine Komplikationen einstellen, dürfte Ihr Körper den Schaden aber selbst reparieren, und zwar vollständig.«
    »Wann darf ich den Verband abnehmen?«
    »Sollte Ihnen etwas an Ihrem Augenlicht liegen, dann lassen Sie ihn mindestens zehn Tage drauf.«
    Topra drehte den Kopf zur Seite. »Danke für Ihre Hilfe. Ich kann auch achtzehn warten. Es spielt keine Rolle mehr.«
     
     
    Von dem Traum gab es mehrere Fassungen, die sich aber nur in Details voneinander unterschieden: Mal ragten Inukiths Beine unter einer großen Steinplatte hervor, dann wieder hatte ein Stein ihren Schädel zertrümmert. Am schlimmsten war die Variante, in der sie einfach nur reglos dalag: äußerlich unversehrt, aber vom Lebenshauch verlassen, in ihrem makellos reinen Hochzeitsgewand und inmitten von Trümmern.
    Solange er den Verband trug, aß Topra so gut wie nichts. Nur wenn Timsahs durchdringende Stimme ihn zum Trinken ermahnte, gab er gewöhnlich schnell nach. Schon um wieder ungestört leiden zu können, ließ er sich von ihr Wasser oder Tee einflößen. Timsah musste eine stattliche Frau im mittleren Alter sein, die es gerne hatte, den Kopf eines hilflosen Kindes an ihre mächtige Brust zu drücken und es ihre Fürsorge spüren zu lassen – das Alter des Zöglings spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Jeden Tag roch Timsah nach anderen Kräutern oder Gewürzen, da sie für ihr Leben gern kochte. Weil es ihrem Patienten jedes Mal den Magen umdrehte, wenn sie ihn mit einem weiteren von »Mutters Rezepten« überraschte, verzehrte sie die duftenden Kreationen jedoch stets allein. Darin habe sie Übung, vertraute sie Topra an, ohne danach gefragt worden zu sein. Seit fast zwanzig Jahren sei sie nun schon Witwe. Sie vermietete ihr Zimmer im Dachgeschoss nur hin und wieder an Matrosen.
    Das schmale Haus der Witwe gehörte zu den wenigen noch in privater Hand befindlichen Anwesen an der Mole des alten Hafens von Memphis. Es sei ein alter Familienbesitz ihres leider viel zu früh verstorbenen Mannes, der in der kaiserlichen Marine gedient hatte und von den Maledukken auf den Grund der See torpediert worden war. Diesem Erbe verdanke sie eine bescheidene Rente und die weitgehende Ungestörtheit von den Spitzeln des Amjib. Mit der Vermietung ihrer Dachkammer verdiene sie sich ein kleines Zubrot.
    Topra ließ die Lebensgeschichte seiner Wirtin an sich vorüberziehen wie eine Brise auf See: Irgendwie berührte sie ihn schon, aber er verschwendete kaum einen Gedanken daran. Erst spät wurde ihm bewusst, dass es keinen besseren Ort gab, um sich von seinen Verletzungen zu erholen als gerade hier, bei dieser treuen Seele, wo das Geschrei der Möwen und die Stimmen der Seeleute durch das offene Fenster drangen, wo das Knarzen von Tauwerk, Masten und Rahen die Geborgenheit jener Welt vermittelte, die fast sein ganzes Leben lang für ihn die einzig existierende gewesen war.
    Der unbekannte Künstlerfreund hatte die Unterkunft für seinen »Revolutionär wider Willen« zwei Monate im Voraus bezahlt und ihm seine Bereitschaft versichert, die Zeit nach Belieben zu

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