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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bewegte sich immer heftiger und die Spalten wuchsen rasch zu Abgründen. Große Stücke Mauerwerks lösten sich aus der Decke und stürzten auf die fliehenden Hochzeitsgäste hinab. Ausgehend vom Leichnam des Prinzen begannen alle zweihundertsechsundsiebzig Säulen zu schwanken. Als Topra spürte, wie die Decke unter seinen Füßen zu beben anfing, erwachte er endlich aus seiner Starre. Verzweifelt versuchte er, etwas zu sehen. War Inukith schon von den überall niedergehenden Bruchstücken erschlagen worden oder drängte sie mit der entfesselten Menge zum viel zu kleinen Westausgang? Seine Ohren vernahmen zwar die vielstimmigen Laute der Todesangst und das immer häufigere Krachen von herabfallenden Trümmern, aber vor seinen Augen war nur lichter Nebel.
    Das Personal des baqatischen Staatsfernsehens im Übertragungswagen konservierte den Schrecken in Kinoqualität. Etliche der fest montierten Kameras sendeten immer noch ihre Einstellungen per Funk aus dem Chaos. Im Gegensatz zur robusten Elektronik bestand die Bildregie jedoch aus Menschen, und die befanden sich unter Schockzustand. Zwar hatte der Regisseur irgendwann den Befehl erteilt, die Liveberichterstattung abzuschalten, aber der benommene Techniker am Schaltpult drückte den verkehrten Knopf. Apathisch befolgte er die weiteren Anweisungen seines Chefs und wählte diejenigen Kameraeinstellungen, die das Grauen am eindrucksvollsten wiedergaben. Was man nur für die digitalen Aufzeichnungsmaschinen auszuwählen glaubte, bekam jedoch drei Fünftel der Weltbevölkerung brandheiß ins Wohnzimmer geliefert. Da gab es herabfallende Trümmer, zerschmetterte oder niedergetrampelte Körper, Blut, Staub und kreischende Menschen, die panisch zum Ausgang strebten, sich aber dort hoffnungslos verkeilt hatten.
    Und bei all dem sahen die von einem breiten Spalt untereinander entzweiten Schutzgötter von Memphis tatenlos zu.
    Topra hatte die Suche nach Inukith inzwischen aufgegeben. Sehen konnte er sie nicht und nach ihr zu rufen war ebenso aussichtslos – er hatte es probiert, aber im ohrenbetäubenden Lärm schnell wieder bleiben lassen. Unvermittelt hörte er vom Westende der Halle ein Krachen, das sogar die Todesschreie der darin gefangenen Menschen übertönte. Er fuhr herum und lauschte. Eine der großen Säulen war umgestürzt. Für jene, die ihr Augenlicht noch besaßen, war es grotesk anzusehen, wie der kolossale Pfeiler scheinbar in Zeitlupe gegen die nächste Säule stieß und auch diese mitriss. Die schreckliche Kaskade, die unweigerlich zum Einsturz der Decke führen musste, polterte unaufhaltsam auf Topra zu.
    Mit ausgestreckten Händen tappte er blind auf die nächstgelegene Lichtöffnung zu. Jemand, der die Sonne in einem Fenster erblickt, dessen Läden im nächsten Moment zufallen, nimmt trotzdem noch eine Weile den hellen Umriss des Himmelskörpers wahr. Ebenso führte Topras Findigkeit ihn geradewegs zum Ausgang. Als sein Fuß gegen den Sturz des glaslosen Fensters stieß, drehte er sich noch einmal um. Tränen rannen ihm übers Gesicht und sein Kinn zitterte, während er den Mund öffnete, um seine ganze Verzweiflung und Wut herauszuschreien.
    »Warum hast du mir das angetan?«
    Hätte ihn jemand in diesem Moment gefragt, ob seine Anklage Aabuwa galt oder Isfet oder womöglich gegen sich selbst gerichtet war – Topra wäre ihm die Antwort schuldig geblieben. Aber sein Ausbruch blieb selbst den Kameras und Mikrofonen des Staatsfernsehens verborgen. Genau wie die Flucht aus der einstürzenden Halle.
    Topra vermochte später nie zu sagen, wie er vom Dach des großen Tempels der Götter Ptah, Sachmet und Nefertem heruntergekommen war. Zweifellos hatte er sich seiner Gabe bedient, die es ihm erlaubte, den Raum zu krümmen, wie jemand ein Gummituch ziehen und zerren mag, um eine darauf liegende Kugel hierhin oder dorthin zu bewegen. Doch ob er an der Fassade heruntergelaufen war oder sich im Schwebeflug einfach hatte fallen lassen, blieb ein Geheimnis.
    Er musste wohl nach der sicheren Rückkehr aus luftiger Höhe und dem Nachlassen der geistigen Anspannung die Besinnung verloren haben. Seine Erinnerung setzte erst wieder bei einer nicht eben sanften Berührung ein. Jemand rüttelte ihn heftig, wodurch seine Lebensgeister geweckt wurden. Eine aufgeregte Stimme, die dem Klang nach zu einem älteren Mann gehörte, holte ihn vollends in die Wirklichkeit zurück.
    »Sind Sie verletzt?«
    Topra öffnete die Augen und spürte einen stechenden Schmerz. Alles, was er

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