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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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abwehrend erhobenen Händen jammerte er: »Ich will meine Ruhe haben. Geh!«
    »Nichts da!«
    Timsahs schwerer Körper brachte die Matratze zum Ächzen. Topra drückte sich noch fester gegen die kühlen Rohre des Bettgestells. »Bitte, Timsah. Es könnte zu früh sein. Lass die Binde, wo sie ist.«
    »Der Quacksalber hat gesagt, zehn Tage. Die sind jetzt vorbei.«
    »Gib mir noch eine Woche. Ich bin noch nicht so weit, Timsah!«
    »Wozu? Zaudern ist wie Hungern: Beides macht schwach.«
    »Drei Tage. Bitte, Timsah! Gönne meinen Augen wenigstens noch so lange Ruhe.«
    »Wozu? Bis dahin bist du in Selbstmitleid zerflossen. Die Binde kommt ab.«
    »Vielleicht bin ich sowieso blind.«
    »Das werden wir gleich wissen.«
    Warme, fleischige Finger griffen nach Topras Kopf. Er schrie. »Halt! Lass mich wenigstens noch einen Tag warten. Der Heiler hat gesagt, zu große Eile könnte mich das Augenlicht kosten.«
    »Das muss er sagen. Je dramatischer die Krankheit, desto höher die Rechnung.«
    »Aber… Halt!«
    Es war zu spät. Timsah hatte den Verband schon vom Kopf ihres Schützlings gerissen.
    Aber Topra war schnell. Er hatte rasch die rechte Hand über die Augen gelegt und bettelte: »Bitte, Timsah, wickle ihn wieder drum.«
    »Dann kannst du ja nicht erkennen, was außer Krebsen und Muscheln noch in der Suppe ist.«
    »Ich wills gar nicht.«
    »Etwa weil du die Welt nicht sehen willst, der du deine Prinzessin genommen hast?«
    Topra erstarrte. Diese kraftstrotzende Frau schien einen untrüglichen Blick für Seelennöte zu besitzen. »Das ist nicht wahr«, murrte er.
    »Ach wirklich? Sagst du das immer noch, wenn ich dir erzähle, was sie heute im Radio gemeldet haben?«
    In dem fünffingrigen »Notverband« entstand flugs eine Lücke. Topra zuckte zusammen, als er den Schimmer unter den Augenlidern bemerkte. Kleinlaut fragte er: »Was wurde denn berichtet?«
    »Inukith lebt.«
    Die Hand fiel in Topras Schoß. Etwa eine halbe Sekunde lang starrte er überrascht in Timsahs grinsendes Gesicht. Dann musste er die Augen zu schmalen Schlitzen verengen, weil die plötzliche Helligkeit ihnen wehtat. »Ist das wahr? Oder wolltest du mich nur dazu bringen, dich anzusehen?«
    »Hältst du mich für ein Ungeheuer? Ich mache dir das Herz doch nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.« Die Wirtin gab sich entrüstet. Ihre Miene erweckte tatsächlich nicht den Eindruck, als könne sie überhaupt lügen. Ihr Gesicht war rund, weitgehend frei von Runzeln und überaus gutmütig. Sie hatte ein Doppelkinn und eine breite, ziemlich schiefe Nase. Unter ihren dichten schwarzen Brauen lagen zwei wache Augen, die Topra ob ihrer erstaunlichen Größe an blauschwarze Feigen erinnerten. Ihre Haare verbarg sie zwar unter einem Kopftuch, aber ihren vollen Mund betonte sie dafür umso stärker mit einem knallig roten Lippenstift. Timsah trug ein traditionelles Gewand aus ockerfarbenem Tuch, von dem sie enorme Mengen eingekauft haben musste, um ihren fülligen Körper bis zu den Knöcheln lückenlos und trotzdem in so verschwenderischem Faltenwurf zu bedecken.
    Endlich schüttelte Topra den Kopf. »Nein, du bist kein Ungeheuer. Höchstens ungeheuer lieb.«
    Timsah schlug verlegen die Augen nieder. »Jetzt übertreibst du aber, mein Junge.«
    »Was haben sie denn im Radio über Inukith gesagt?«
    Die eben noch gelöste Miene der Wirtin wirkte plötzlich angespannt. »Nichts Gutes, fürchte ich. Es hieß, Aabuwas Witwe sei körperlich wohlauf, doch in tiefer Trauer über den jähen Tod ihres Gemahls – man kennt ja den schwülstigen Ton offizieller Verlautbarungen.«
    »Und weiter?«
    »Außerdem haben sie eine kurze Erklärung des Pharaos gesendet. Er hat verkündet, dass heute in acht Tagen, genau um Mitternacht, die Bestattungsriten für seinen Sohn Aabuwa beginnen sollen.«
    Topra schwante Schlimmes. »Sie wollen doch nicht…?«
    Timsah nickte traurig. »Doch, mein Junge. Die Frau des Verstorbenen und sogar ihre Mutter sollen den Kronprinz ins Totenreich begleiten.«
    Für Topra kam diese Nachricht einem Untertauchen in eiskaltem Wasser gleich. Er fühlte seinen Körper nicht mehr, spürte nicht einmal das Zittern seiner Hände. Sein Kinn sackte schwer auf die Brust. Der letzte Pharao, der seine Frauen und Diener mit ins Grab genommen hatte, war Isfets Ururgroßvater gewesen. Es gab zwar kein Gesetz, das die Tötung von Menschen zum Zwecke der Grabbeigabe verbot, aber der Brauch galt nicht mehr als schick. Der moderne Baqater starb in stiller

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