Die unsichtbare Pyramide
Ganz anders der zweite Mann, der nur noch die Reste abbekommen hatte: Er begann zu taumeln. Trevir stockte der Atem, zunächst, weil er fürchtete, der Posten könnte vornüber von der Galerie kippen, und dann, weil plötzlich Licht auf das Gesicht des Mannes fiel und Trevir ihn erkannte. Es war sein Waffenpate Featherbeard.
O nein, tu mir das nicht an!, flehte Trevir in Gedanken. Gebannt starrte er nach oben. Featherbeards Hände hielten sich einige schreckliche Augenblicke lang am Geländer fest. Noch hatten Molog und sein Ziehsohn nichts bemerkt. Sie sprachen leise miteinander, als wäre nichts geschehen. Der Recke auf der Galerie wankte unvermittelt nach hinten. Seine Hände rissen sich vom Geländer los. Er stieß gegen die Wand und rutschte beinahe geräuschlos mit dem Rücken daran herab, bis er in der Hocke verharrte, fast so, als wolle er seine Notdurft verrichten. Mehrere bange Momente lang starrte Trevir mal nach oben, dann wieder zu Molog und Wulf. Die beiden redeten immer noch. Der vermeintlich pflichtvergessene Posten zu ihren Häuptern blieb unbemerkt.
Trevir atmete auf. Es hatte auch Vorteile, dass sein heimliches Wirken den unsichtbaren Bannkreis des Altars nicht zu durchdringen vermochte. So konnte sein mindestens ebenso begabter Gegenspieler ihn von dort nicht orten. Um kein Risiko einzugehen, schickte er Orrik noch einmal auf Erkundungsflug. Die Fledermaus flatterte durch den riesigen Tempelraum, zirpte in für Menschen unhörbaren Tönen und fing selbige mit ihren großen Ohren wieder auf. Was sie auf diese Weise »sah«, teilte sie wenig später ihrem Herrn mit: Alle Feinde betäubt, alle Freunde auf Posten.
»Das war der leichte Teil der Übung«, flüsterte Trevir, während er sich mit einer Streicheleinheit bei seinem kleinen Helfer bedankte. Hiernach setzte er sich Orrik auf die Schulter, hob Aluuins Stab von den Stufen auf und schlich sich näher an die verbliebenen zwei Gegner heran. Am äußeren Rand des runden Kuppelsaals häufte sich ein unregelmäßiger Ring aus Trümmern. Hinter einem der höheren Schutthaufen bezog Trevir seinen Lauschposten. Von hier konnte er nun auch der leisen Unterhaltung folgen.
»Ich spüre nicht das Geringste. Vielleicht haben wir uns geirrt«, sagte gerade Wulf.
»Er wird kommen«, erwiderte Molog gelassen.
Trevir erschauderte, als er sah, wie Wulf einen blauen Gegenstand vom Altartisch aufhob. Es war ein halb durchsichtiges Stilett. Die Unheil verkündende Szene spiegelte sich in einer Pfütze am schwarz-weißen Hallenboden. Mologs Zögling bettelte: »Bitte lass mich ihm den Dolch ins Herz stoßen, Vater.«
»Nein, Wulf. Ein für alle Mal, nein. Du bist selbst ein Angelpunkt des Triversums und könntest das Gleichgewicht stören.
Was wir zu tun beabsichtigen, ist so schon kompliziert genug.«
»Darf ich Trevir dann wenigstens nachher bekommen?«
»Wenn er tot ist? Wozu?«
»Als Zielscheibe für meine Pfeile.«
Molog funkelte seinen Sohn mit versteinerter Miene an, schüttelte den Kopf, knurrte dann jedoch: »Was von ihm übrig ist, kannst du gerne haben.«
»Und Dwina?«
»Das Mädchen interessiert mich nicht. Sie bedeutet für uns keine Gefahr mehr, sobald wir das hier erst hinter uns haben. Du kannst mit ihr anstellen, was dir beliebt.«
Trevir zog sich in die Schatten seiner Deckung zurück. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er und Wulf mochten sich zwar ähnlich sein, aber sie waren einander zugleich so verschieden wie die zwei Seiten einer Münze, wie das Licht des Tages und die Finsternis der Nacht.
»Es fängt an!« Mologs Stimme verkündete, was auch Trevir in diesem Moment bemerkt hatte. Ein schwacher, fast noch nicht wahrnehmbarer blauer Schimmer umgab seine Hände. Ja, es begann. Hoffentlich verstanden die Badda das Zeichen zu deuten. Falls nicht, dann würde der Glanz ihn in wenigen Augenblicken ohnehin verraten.
Molog betrachtete mit einem Ausdruck fiebernder Erwartung seinen Ziehsohn. Das blaue Glühen wurde rasch stärker.
»Gib mir jetzt den Dolch«, sagte er leise.
»Wozu?«, fragte Wulf.
»Um gewappnet zu sein, wenn dein Bruder erscheint.«
»Dieser Trevir ist nicht mein Bruder.«
»Vielleicht nicht im Blute, aber in eurem Wesen seid ihr euch sehr ähnlich.«
»Er ist ein Schwächling und ich bin ein Krieger. Er stammt aus einem Feenwald, aber ich wurde im Großen Steinkreis auf der Hochebene bei Salisbury geboren. Er ist ein Nichts und ich bin ein König.«
»Bis es so weit ist, wirst du dich meinem
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