Die unsichtbare Pyramide
der Schmerz sie zu übermannen. Sie konnte ja nicht wissen, wo sich ihr Mann befand, aber sie hatte den Dolch in seiner Brust gesehen. Welchen Beweis brauchte sie da noch für das, was Wulf ihm angetan hatte? Plötzlich, ehe Trevir sich ihr bemerkbar machen konnte, brach ihre Seelenpein wie glühende Magma aus einem Vulkan hervor. Der Hüter schüttelte entsetzt den Kopf, doch es war zu spät. Ihre Anklage – »Mörder!« – konnte nicht unbemerkt bleiben. Wulf hatte sie entdeckt.
Während sie wütend auf ihn zulief, lachte er wie ein Wahnsinniger. Trevirs Hirn suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Er musste Dwina retten. Schon sah er Wulfs Hand zum gefiederten Schaft greifen. Es gibt nur eine Lösung, sagte sich Trevir, und du hast nur einen Versuch. Er ließ seinen knorrigen Stock los, streckte die blau glühenden Hände nach Dwina aus und lenkte die Kräfte des Triversums um.
Ehe Aluuins Stab am Boden aufschlug, hielt Trevir seine Frau in den Armen. Der Pfeil prallte wirkungslos gegen einen steinernen Pfeiler. Trevirs Wunde machte sich schmerzhaft bemerkbar. Er wankte rückwärts, strauchelte und landete samt Dwina auf den Marmorplatten. Im Dom erhob sich das Geschrei der Badda, wodurch weder Wulf noch der Kriegslord Dwinas Freudenruf vernahmen.
»Trevir, du lebst!?«
»Nicht mehr lang, wenn du mir noch weiter die Luft abdrückst.«
»Aber ich habe doch gesehen, wie der Dolch in deine Brust…«
Sie rutschte schnell von ihm herunter, suchte und fand auch das Loch in seinem Gewand.
Im Widerschein des eigenen Glanzes bemerkte Trevir, wie ihr Kummer in Erleichterung umschlug, als ihr klar wurde, was der Dolch getroffen hatte. Obwohl die Situation im Tempel noch lange nicht geklärt war, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er griff unter seine grauschwarze Baddatunika und holte einen nur allzu bekannten Gegenstand hervor. »Ceobba wird mich vierteilen, wenn ich ihm Das Buch der Balance so wiedergebe.«
Dwina nahm ihm die Kladde ab und steckte ihren kleinen Finger durch das Loch. Dann sah sie das Blut an der Austrittsstelle und erneut kippte ihre Stimmung von Euphorie zu Besorgnis. Hektisch streifte sie sein Oberteil hoch, um nach der Wunde zu suchen.
»Ist nur ein Kratzer«, wiegelte Trevir ab.
»Das sagen Männer immer und im nächsten Moment kippen sie tot um.«
Trevir drängte ihre Hände sanft, aber entschieden zurück und schob die Tunika wieder nach unten. »Dafür haben wir später immer noch Zeit, Dwina. Ich glaube, unsere Freunde brauchen Hilfe.« Er deutete in den Kuppelsaal.
Nun erst sah Dwina, was sich inzwischen dort abgespielt hatte. Ein Zylinder aus Gesteinsbrocken, Staub und einem einzelnen Badda rotierte mit mahlendem Geräusch um den Altar. Trotzdem versuchten die Unterlondinorer die Barriere mit gezielten Würfen zu durchdringen, doch vergeblich.
»Da kommen wir nie durch«, sagte Dwina.
»Das brauchen wir auch nicht. Wulf hält sich vermutlich für sehr schlau, aber mit diesem Mahlstrom wird er sich schnell verausgaben. Spätestens am Ende der sechsten Welle bricht er zusammen und Trimundus ist gerettet. Bis dahin müssen wir allerdings unseren Druck aufrechterhalten, damit Molog nicht…« Trevir versagte die Stimme, als er das Unfassbare sah.
»Was tut Molog da?«, stieß Dwina entsetzt hervor.
Trevirs Antwort war nur ein Flüstern. »Wer den Schwingungsknoten kontrolliert, der beherrscht das ganze System; wer ihn auflöst, entfesselt es.«
»Was?«
Anstatt das Zitat aus Abacucks Buch der Balance zu erklären, sprang Trevir vom Boden auf und schrie: »Alle Mann in Deckung!«
Seine Warnung kam keinen Augenblick zu spät. Während er Dwina zu Boden zerrte und sich über sie warf, suchten die Badda hinter Säulen und Trümmern Schutz. Noch waren längst nicht alle in Sicherheit, als die herumwirbelnden Brocken auch schon Wulfs Geist entglitten und wie tödliche Geschosse in alle Richtungen davonschwirrten. Einige Badda wurden getroffen. Schmerzensschreie hallten durch den Tempel.
»Geht es dir gut?«, fragte Trevir atemlos.
»Nein, aber ich bin unverletzt, falls du…« Dwina verstummte, weil der Tempel plötzlich wie von einer riesigen Faust erschüttert wurde. »Was war das? Ein Erdbeben?«
Staub rieselte von der baufälligen Kuppel herab. Trevir schüttelte den Kopf. »Nein, eher die Bestätigung von Abacucks Hypothese. In einem seiner Aufsätze stand etwas über Wesen, denen der Schwerpunkt des Triversums innewohnt. Wulf und ich sind von dieser Art. Abacuck
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