Die unsichtbare Pyramide
Trevirs ohnehin schon vorsichtige Bewegungen noch behutsamer. Wie ein Schatten glitt er in den Tempelraum. Man hatte in dem riesigen Bau etliche hohe Gestelle mit Feuerschalen aufgestellt, die für ein unruhiges Zwielicht sorgten. Durch eine Lücke konnte Trevir in den Ring aus zusammengeschobenen Trümmern sehen. Am Boden unter der Kuppel spiegelten sich die Flammen von Leuchtern in einer großen Wasserlache. Genau im Zentrum des Doms stand der Altartisch. Trevirs Herz setzte einen Schlag aus, als er dahinter Wulf und Molog entdeckte. Sie sprachen leise miteinander. Es sah aus, als würden sie auf etwas warten. Auf den Höhepunkt der sechsten Welle, machte sich Trevir klar. Wulf musste genauso wie er die Unruhe spüren, die ihr unmittelbar vorausging.
Bevor Trevir in das Geschehen unter der Kuppel eingreifen konnte, musste er sich den Rücken frei machen. Mit wie vielen Leibwächtern würde sich Molog im Tempel umgeben? In der Vergangenheit hatte er alles, was mit dem Zusammenketten des Triversums zusammenhing, stets geheim gehalten. Also würde er auch in dieser Nacht die Zahl der Zeugen auf ein Mindestmaß beschränken. Vermutlich hatte er den Ring aus Soldaten vor dem Gebäude dafür umso mehr verstärkt. Gründlich blickte sich Trevir nach Mologs Kriegern um. Im näheren Umkreis gab es mehr Schatten als Licht. Wachen waren keine zu sehen. Aber damit hatte der Hüter gerechnet. Dies war Orriks große Stunde.
Der geflügelte Kundschafter wurde von seinem Freund in die Luft geworfen und verschwand in der Dunkelheit. Trevir nutzte die Wartezeit, um den Stab behutsam auf die Treppe zu legen und in seinen Beutel zu langen. Darin lagen etliche Kügelchen, die aus Kleie und einigen sehr wirksamen Kräutern bestanden; das Rezept stammte vom Bader Clutarigas. Hoffentlich reichte der Vorrat für alle Wachen.
Bald kehrte Orrik zurück und erstattete seinem Herrn Bericht. Trevir deutete das helle leise Fiepen in Richtungs- und Höhenangaben um.
Jetzt sah er den Posten, einen Bogenschützen, der auf einer Empore stand, vierzig oder fünfzig Fuß über dem Boden.
Trevir legte sich die erste Kräuterkugel auf die Handfläche, konzentrierte sich auf den Magen des Kriegers, und versetzte die Pille genau dort hinein. Mit dem bloßen Auge war bestenfalls zu erahnen, dass den Posten plötzlich eine Starre befiel, die mehr seinen Geist als den Körper lähmte. Der Mann blieb weiter stehen, aber nun interessierte ihn der Wachdienst nicht mehr. In einem Zustand fortgeschrittener Lethargie starrte er nur in den Tempel hinab. Für die nächsten zwei Stunden würde selbst ein Feuer unter dem Hintern ihm keinen Mucks entlocken.
Nach kurzer Zeit verriet Orrik das Versteck des zweiten Wächters. Der Mann stand wie eine Ritterrüstung in einem dunklen Winkel und wenig später war er auch ebenso phlegmatisch wie eine solche. So versank ein Soldat nach dem anderen in Teilnahmslosigkeit. Orrik wusste sehr wohl zwischen Badda und Oberirdischen zu unterscheiden. Auch Dwina wurde von ihm als »freundlich« eingestuft. Zum Schrecken seines Herrn wollten indes die versteckten Bogenschützen gar kein Ende nehmen. Der Vorrat an Betäubungspillen schrumpfte beängstigend schnell. Als Orrik die letzten beiden Posten auf der Flüsternden Galerie meldete, traf ein, was Trevir befürchtet, womit er aber nicht ernsthaft gerechnet hatte: Seine suchende Hand fand nur noch eine Lähmungskugel im Beutel.
Er nahm den Kleieklumpen heraus, zögerte jedoch, ihn seinem Empfänger zuzustellen. Dem zweiten, von einer Säule halb verdeckten Posten musste die ungewöhnliche Starre seines Kameraden ihm gegenüber früher oder später auffallen. Wenn der Mann Alarm schlug, dann war alles verloren. Verzweifelt durchwühlte Trevir erneut den Ledersack. Alles, was er dort fand, waren Krümel, kleine Bruchstücke, die sich von anderen Pillen gelöst hatten. Er stülpte den Beutel um, sammelte die Reste in der hohlen Hand und knetete daraus eine jämmerlich kleine Kugel. Es war ein Wagnis, aber was sollte er tun? Wenn er den anderen Klumpen zerteilte, mochte die betäubende Wirkung weder bei dem einen noch bei dem anderen Soldaten eintreten. So bestand immer noch die Möglichkeit, den letzten Krieger hierher in diesen dunklen Winkel zu versetzen und ihn im Zweikampf niederzuringen. Trevir graute bei dem Gedanken.
In schneller Folge versorgte er die beiden Posten mit dem Betäubungsmittel. Die große Kugel wirkte wie gehabt: Der Krieger wurde starr wie eine Holzfigur.
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