Die unsichtbare Pyramide
Mitten in einer Pfütze blieb er stehen. Die Oberfläche des Wassers kräuselte sich unter den immer stärker werdenden Erschütterungen. Dabei reflektierte es den Glanz an die umstehenden Säulen und Wände. Verwundert stellte Trevir fest, dass sogar die schwarzen und weißen Marmorplatten sich wie Wellenringe zu bewegen schienen. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht eine Folge des Schlages, den er erhalten hatte.
»Wo seid ihr?«, flüsterte er. Irgendwie musste er ja schließlich beginnen.
Keine Antwort. Nur das Zittern des Bodens nahm zu. Ganz in der Nähe stürzte ein weiterer Teil der Decke ein.
»Wulf stirbt!«, meldete Dwina vom Altar her.
»Brüder, ich brauche eure Hilfe. Kommt!«
Endlich veränderte sich das unruhige Spiel der Lichter. Es wurde rasch überstrahlt von einer blauen Wolke, die bald den ganzen Dom ausfüllte. Die Wasserlache zu Trevirs Füßen sah mit einem Mal aus wie eine Eisscholle, unter der ein gleißend heller, aber unergründlich tiefer Abgrund lag; allein die Vorstellung bescherte dem Hüter ein mulmiges Gefühl. Dann erschien unter ihm wie aus Nebelschwaden plötzlich eine Gestalt. Ein Jüngling! Sein schwarzer Haarschopf war zum Greifen nahe, der Oberkörper nackt und er trug – einen Faltenrock?
Um weniger steil auf die Gestalt herabsehen zu müssen, trat Trevir einen Schritt zur Seite. Unvermittelt tauchte der Jüngling aus der Pfütze auf. Er war so durchscheinend wie Mologs Saphirdolch und strahlte wie ein Stern. Im Hintergrund glaubte Trevir schemenhaft noch drei andere Gestalten auszumachen, die sich an einem Steinklotz festklammerten, dem Altar in Saint Dryden’s Temple nicht unähnlich. Dahinter sah er ein Wasserbecken sowie die mit fremdartigen Zeichen verzierten glatten Wände eines fensterlosen Raumes. Das Gemach zitterte genauso wie der Dom. Die Szene war wie von wabernden Nebelschwaden verschleiert, hin und wieder konnte Trevir einige Details deutlicher erkennen. Unwillkürlich wischte er sich über die Augen, um einen klareren Blick zu bekommen, aber das half auch nichts. Alles wirkte irgendwie blass, wie in einem Gemälde, das allein aus verschiedenen Blautönen bestand. Einzig der glänzende Junge, der ihn aus nächster Nähe erstaunt anblickte, blieb klar. Nein, dachte Trevir, das war nicht der Francisco, den er in der Wasserschale gesehen hatte.
»Wer bist du?«, fragte er.
Der andere reagierte mit einem ratlosen Gesicht. Dann stieß er einige hastige Worte hervor, die Trevir nicht verstand.
»Er spricht eine andere Sprache«, bemerkte Dwina überflüssigerweise.
»Wie ich vermutet hatte: Wir sind Drillinge«, sagte Trevir, ohne sich zu ihr umzuwenden. Er tippte sich auf die Brust, deutete dann auf seinen Doppelgänger und hob hiernach drei Finger hoch. Schließlich breitete er fragend die Hände aus. »Wo ist der Dritte? Wir brauchen Francisco.«
Der andere schien zu begreifen. Er zeigte auf sich und sagte: »Topra.«
Trevir nannte seinen Namen. In diesem Augenblick bäumten sich unter ihm die Marmorplatten auf, als wären sie nur Blätter auf den Wogen des Meeres. Aber er war der Hüter des Gleichgewichts und blieb stehen. Hinter ihm ertönte Dwinas verzweifelte Stimme.
»O nein!«
»Was ist?«, rief Trevir über die Schulter.
»Sein Herz schlägt nicht mehr!«
Ein weiteres Stück der Kuppel stürzte ein. Trevir schloss die Augen und flehte: »Francisco, bitte komm!«
Unvermittelt spürte er eine warme Berührung an der Hand, Finger die sich um die seinen schlossen. Als er die Lider hob, sah er Topras Arm aus dem blauen Gleißen wie aus einem Vorhang herausragen. Trevir verschlug es die Sprache. Die Hand seines Alter Ego sah so natürlich und lebendig aus wie seine eigene.
Plötzlich wurde sich Trevir bewusst, dass Topra zu ihm nach Trimundus hinüberwechseln wollte. Hastig schüttelte er den Kopf und schob sein anderes Ich von sich weg, ohne es jedoch loszulassen. »Das darfst du nicht. Es würde das Gleichgewicht stören.« Wenn er mich doch nur verstehen könnte! Eindringlich sah er in Topras Gesicht und wiederholte: »Wo ist der Dritte? Wir brauchen Francisco.«
Topra nickte und schloss die Augen. Trevir folgte seinem Beispiel. »Francisco!«, flüsterten sie im Chor. »Francisco!« Ihr Geist versuchte die Tür in jene Welt aufzustoßen, von der sie nicht einmal ahnten, dass sie Erde hieß. Sie wussten nur, wen sie dort suchten: »Francisco!«
Dwina stieß einen Schrei aus. »Sie haben ihn…«
Trevir riss die Augen auf und war einen
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