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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schiffe mit dem typischen großen Dreieckssegel nur zwei Masten, dieses hier hatte jedoch drei. Hobnaj kannte nicht viele Dhauen dieses Typs, genau genommen nur eine. Seine Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, als er den Namen des Dreimasters entzifferte.
    Tanhir!
    »Der Falke«, flüsterte er staunend die Bedeutung des Wortes, das aus grauer Vorzeit stammte. In den Hafenspelunken kursierten unzählige Geschichten von diesem Schiff und seinem einstigen Kapitän. Es hieß, Samra sei ein Draufgänger gewesen, der es mit Witz und Wagemut jahrzehntelang geschafft hatte, dem Beamtenapparat des Pharaos kleine Nadelstiche zuzufügen. Trotzdem konnte man ihm nie ein Vergehen nachweisen, was ihn letztlich zu einer Art Volksheld machte. Eines Morgens hatte man ihn tot im Hafen von Memphis aufgefunden. Es konnte nie geklärt werden, ob Samras Ende Gegenstand eines jener »Geschäfte« war, die Isfets Geheimpolizei mit den Verbrechersyndikaten der Unterstadt auszuhandeln pflegte.
    Jedenfalls wurde erzählt, die Tanhir stehe nun unter dem Kommando von Samras Spross, Jobax. Vater und Sohn gehörten, wie gemunkelt wurde, dem alten Geschlecht der Tamehu an, einem abenteuerlustigen Seefahrervolk, das sich durch großen Wuchs, blonde Haare, blaue Augen und lange Schädel auszeichnete. Diese Beschreibung passte hervorragend auf den streitbaren Seemann. Er habe eine weite Reise vor sich und hätte längst auslaufen sollen, die Hafenbehörde müsse ihm den Schaden ersetzen, wetterte er.
    Hobnaj zog sich wieder in die Schatten zurück. Die Beamten hatten den Kapitän gerade in ihr Büro gebeten, damit man sein Anliegen ins amtliche Beschwerdeformular aufnehmen könne. Das war die Gelegenheit, auf die Hobnaj gewartet hatte!
    Der Nubier drehte den Säugling so, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte. Eine sanfte Aura blauen Lichts umhüllte das Kind. Es war wach. Und es lächelte den schwarzen Mann freundlich an.
    »Bitte fang nicht gerade jetzt an zu strahlen«, flehte Hobnaj leise. »Es tut mir ja Leid, kleiner Topra, wenn ich auf die Schnelle keine besseren ›Eltern‹ für dich finden kann als diesen rauen Burschen da drüben und seine Besatzung. Aber ich glaube, der Kapitän hat das Herz seines Vaters geerbt. Er ist auf einem Segler groß geworden. Vielleicht entsinnt sich Jobax seiner eigenen Kindheit auf der Tanhir und behält dich, um aus dir einen ebenso aufrechten Mann zu machen, wie er selbst einer sein soll. Und falls nicht, wird er dich in gute Hände geben. Mehr kann ich im Moment nicht für dich…«
    Hobnaj verstummte, weil das blaue Glühen immer heller wurde. »O nein!«, jammerte er leise. »Tu mir das nicht an, Topra. Ausgerechnet jetzt!« Plötzlich hörte er hinter sich Stimmen.
    »Hast du das gesehen?«, fragte einer.
    »Keinen Schimmer, wovon du redest«, antwortete der andere.
    »Na eben davon: Dieser blaue Schimmer da in der Quergasse.«
    »Ich sehe nichts.«
    »Jetzt ist er ja auch weg. Aber der Hauptmann hat gesagt, die Konkubine soll so ne seltsame blaue Lampe gehabt haben. Schnell, lass uns nachsehen! Vielleicht schnappen wir ja den Nubier und kriegen die Belohnung.«
    Hobnaj hatte den Säugling rasch unter der Mönchskutte verborgen. Jetzt glänzte der ganze Mann, wenn auch lange nicht so intensiv wie zuvor das Kind. Schon hörte er Schritte, die sich ihm rasch näherten. Was sollte er tun? Die Polizisten hatten bestimmt Lichtkanonen, er nur einen Säbel. Und auf dem Kai diskutierten immer noch der Kapitän und die Beamten der Hafenbehörde.
    »Wir stecken in der Falle«, flüsterte Hobnaj, als könnte das Kind ihn verstehen. »Wie wär’s mit einem kleinen Wunder, Topra, so wie vorhin in der Kammer des Wissens? Muss ja nichts Großes sein. Mach uns unsichtbar. Oder bring uns in ein Versteck. Ja! Am besten in dieses Schiff da…«
    Der Nubier spürte ein jähes Ziehen, das durch seinen ganzen Körper lief. Gleichzeitig blendete ihn ein greller blauer Blitz. Als Hobnajs Augen wieder sehen konnten, traute er ihnen nicht. Er befand sich in einem Raum, der ganz aus Holz bestand. In der Nähe flackerte eine elektrische Lampe. Die Decke war so niedrig, dass er nur geduckt stehen konnte. Kein Zweifel, dies musste Kapitän Jobax’ Dhau sein. Durch eine offene Luke in der Schiffswand konnte man ihn im Gespräch mit den Beamten hören.
    Und Topra weinte.
    »Pscht!«, machte Hobnaj, um das Kind zu beruhigen. Vermutlich hatte es denselben Schmerz gespürt wie er, als diese ganz und gar unglaubliche Sache passiert

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