Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Dann fiel der erste Schuss.
    »Sofort Feuer einstellen!«, rief Jobax, als er das scharfe Peng! der Pistole hörte. Er konnte sehen, wie die Kugel neben dem Hals des riesenhaften Mannes ins Holz einschlug; um ein Haar hätte sie ihn getötet. Das musste der Nubier sein, auf dessen Kopf die Belohnung ausgesetzt war.
    Das Hauptdeck der Tanhir bot ein heilloses Durcheinander. Jeder schrie irgendetwas. Männer sprangen aus den Wanten. Es sah nicht so aus, als hätten sie den Befehl des Kapitäns überhaupt gehört. Der Nubier floh mit langen Sprüngen um das Achterhaus herum zum ansteigenden Heck des Schiffes.
    »Ich will ihn lebend. Fangt ihn ein!«, rief Jobax. Doch da peitschte schon ein weiterer Schuss über das Deck, ein dunkler Schatten fiel über die Reling, ein lautes Platschen ertönte – dann herrschte betroffene Stille.
    »Hast du nicht meinen Befehl gehört?«, herrschte Jobax den Seemann an, dessen rauchende Pistole ihn als den Schützen entlarvte. Anstatt eine Antwort abzuwarten, eilte der Kapitän nach achtern. Er beugte sich über die Reling und blickte ins Wasser. Von dem Nubier war nicht die geringste Spur zu sehen.
    Jobax schüttelte verzweifelt den Kopf. Manchmal waren seine Männer einfach zu impulsiv. Sicher, sie hatten einen vermeintlichen Dieb dingfest machen, vermutlich sogar das Kopfgeld einstreichen wollen, aber mussten sie ihn deshalb gleich abknallen wie einen…?
    »Da treffe ich den Halunken und er säuft mir einfach ab. Die Belohnung dürfte futsch sein«, jammerte der Schütze. Die finstere Miene des Kapitäns ließ ihn schnell verstummen.
    Jobax löste sich von der Reling, betrachtete einen Moment lang die feuchte Innenfläche seiner Hand und streckte sie dann dem Seemann entgegen.
    Sie war rot. Voller Blut.

 
     
     
     
    ZWEITE WELLE

 
    4
    Die Insel der Stürme
    Trimundus
     
     
     
    Wie war das dumme Schaf nur auf die Klippe gekommen? Und vor allem: Wie hatte er selbst hierher gelangen können? Trevir vermochte sich weder das eine noch das andere zu erklären. Verstört blickte er an der grauen Felswand hinab. Tief unten brandete der Ozean.
    »Komm, kleine Dwina, koooomm«, lockte Trevir einmal mehr den kleinen Ausreißer, der da verängstigt auf einem Vorsprung stand und nicht vor noch zurück konnte. Der Junge besaß mehr Erfahrung im Finden und Zurückbringen von verirrten Schafen als jeder andere unter seinen Brüdern, aber etwas Derartiges war ihm noch nie passiert. Auf allen vieren kroch er näher an das Lamm heran und reckte ihm die Hand entgegen.
    Dwina blökte sich vor Angst die Seele aus dem Leib und dachte gar nicht daran, auch nur einen Schritt näher zu kommen.
    Heftige Böen zerrten an Trevirs grauer Kutte. Unter ihm rannten die Wellen wie wütende Widder gegen die Klippen an. Das Geräusch vermochte selbst einen gestandenen Seemann das Fürchten zu lehren, aber Trevir war gerade erst vierzehn Jahre alt. Obwohl schwindelfrei, empfand er seine Lage als ausgesprochen beunruhigend.
    »Du bist das ungezogenste Lamm, das ich je gehütet habe«, schalt er das Tier.
    Dwina drückte sich noch dichter an den Fels und blökte abermals.
    »Wenn Meister Aluuin davon erfährt, wird er dich zu meinem Initiationsfest braten.«
    Das Schaf schwieg.
    »Ich soll nicht fluchen, hat der Meister gesagt, aber gleich tu ich’s, wenn du nicht sofort kommst«, drohte Trevir. Um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen, hob er die Faust. Als er dabei sein Körpergewicht auf die linke Hand verlagerte, brach unter dieser der weiche Sandstein weg und Trevir rutschte ab.
    Im nächsten Moment hing er an einer Hand über dem Abgrund. Die andere suchte, fand aber keinen Halt. Auch seine Füße stocherten nutzlos im Nichts herum, weil der Vorsprung einen Überhang bildete und die Felswand darunter für den Jungen unerreichbar war. Wie eine nach ihm schnappende Bestie fauchte unter ihm das aufgewühlte Meer. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ein schrecklicher Gedanke bemächtigte sich seiner: Das ist das Ende!
    Allmählich rutschten Trevirs Finger ab. Ihm fehlte einfach die Kraft, sich einhändig nach oben zu ziehen. Über ihm erschien das weiße Köpfchen Dwinas. Das Lamm blökte. Hol mich noch einmal zu dir, dachte er verzweifelt. Du dummes kleines Schaf. Eben hast du es doch auch gekonnt…
    Dann stürzte er.
    Erschreckend schnell entfloh der Vorsprung mit dem Lämmchen in den Himmel. Trevir begann sich zu drehen und verlor die Orientierung. Flüchtig sah er die schäumende Gischt mit den kahlen

Weitere Kostenlose Bücher