Die unsichtbare Pyramide
gekommen.« Er legte den Jungen in den offenen Kornsack, ordnete noch einmal das von Wira so kunstvoll gewickelte Leinentuch und deponierte das zusammengerollte Bündel Geldscheine, das Gisa ihm gegeben hatte, davor auf dem Boden. Obwohl das Getrappel an Deck immer heftiger wurde und er jeden Moment mit einer Entdeckung rechnen musste, nahm er sich Zeit, um sein Arrangement einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er richtete sich, so weit es die niedrige Decke erlaubte, auf, ließ das Bild auf sich wirken und versetzte sich dabei in die Lage eines unbedarften Matrosen.
Nein, dachte Hobnaj schon nach kurzem Grübeln. Wie ein unzufriedener Künstler schüttelte er den Kopf. Wenn die Seeleute den Säugling so vorfinden, dann ist er für sie nur ein x-beliebiges Kind. Man wird nichts Eiligeres zu tun haben, als es so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Irgendwo in Hobnajs Bewusstsein regte sich Widerspruch: Aber da ist der stattliche Geldbetrag!
Sofort konterte es aus einer anderen Ecke seines Geistes: Den könnte der glückliche Finder unbemerkt einstecken.
Der Optimist in ihm hielt dagegen: Na, wenn schon! Man wird trotzdem das ungewöhnliche Muttermal entdecken und vielleicht…
»Genau so!«, raunte der Nubier.
Noch einmal sah er sich um. Hatte er nicht…? Ja! Auf dem Deckel eines Kruges in der Nähe lagen eine Hand voll Kerzen und sogar ein Feuerzeug. Schnell nahm Hobnaj drei der Lichter, zündete sie an und gruppierte sie so um das Kind herum, dass sie ein gleichschenkliges Dreieck bildeten: das Herrschaftssymbol des Pharaos. Mehr als andere Menschen waren Seeleute Zeichen und Wundern gegenüber aufgeschlossen, weil ihr Leben von der täglichen Erneuerung des Paktes mit den Naturgewalten abhing. Das flammende Dreieck und dazu das Feuermal auf der Haut des Knaben – diese Zeichen würden ihnen Respekt einflößen und nebenbei auch die Ratten fern halten.
Wieder musterte Hobnaj sein Werk. Zufrieden nickte er. Jetzt galt es nur noch, unbemerkt vom Schiff zu kommen. Er beugte sich zum Kind herab, küsste es auf die Wange, sagte leise Lebewohl und wandte sich dem Niedergang zu – wo er jäh verharrte.
Wer immer sich seiner annimmt, muss wissen, wie das Kind heißt.
Siedend heiß fiel ihm der letzte Befehl Gisas sein. Fast hätte er ihn vergessen. Hobnaj wandte sich noch einmal um. Von draußen drang der Freudenruf eines Seemannes herein.
»Kapitän! Wir dachten schon, die hätten Sie verhaftet.«
»Verhaften? Mich?« Ein Lachen ertönte. »So schnell lässt sich Jobax nicht einsperren. Ist unser Falke bereit zum Abheben?«
»So gut wie.«
Hobnaj sah sich gehetzt um. Jetzt galt es, schnell zu handeln. Mit zwei Schritten war er wieder beim Jutesack. Er langte neben dem Leinenbündel ins Getreide und holte rasch eine Hand voll Körner heraus. Dabei rieselten einige zwischen Topras Leinentücher, eines fiel ihm sogar mitten auf die Nase. Der Winzling nieste.
»Entschuldige«, sagte Hobnaj und fischte mit seinen großen Fingern das Samenkorn aus dem Gesichtchen. Sodann kniete er sich zu Füßen des Kindes und schrieb mit einer Spur aus Weizenkörnern den Namen TOPRA auf den Dielenboden.
›»Die Basis des Dreiecks‹ – das passt«, murmelte er zufrieden, weil die Schriftzeichen nun genau das Fundament der Kerzenpyramide bildeten. »Das muss genügen.« Ein letztes Mal streichelte er Topras Wange und schlich sich zum Niedergang zurück.
Die steile Stiege mündete unter einer verschlossenen Luke. Der Nubier hob den Deckel behutsam an und erschauderte. An Deck herrschte rege Betriebsamkeit. Wie sollte er nur vom Schiff kommen, ohne entdeckt zu werden?
Noch war die Sonne nicht aufgegangen und die elektrische Beleuchtung des Decks eher dürftig. Das war ein Vorteil, den er für sich nutzen konnte. Einige bange Atemzüge lang wartete Hobnaj auf eine günstige Gelegenheit. Als er die Luke unbeobachtet wähnte, schlüpfte er an Deck. Der Ausstieg befand sich ein Stück hinter dem Großmast. Am Bug sah er mehrere Männer mit Tauwerk hantieren. Also nach achtern!
Wie ein Schatten huschte der Nubier über die Planken. Fast hatte er die Heckaufbauten der Dhau erreicht, als ein Alarmruf erscholl.
»Kapitän, ein Dieb!«, rief jemand, den Hobnaj nicht sehen konnte. Sofort duckte er sich.
Jobax erreichte gerade über die Gangway das Deck. Seine Augen folgten dem aufgeregten Deuten der Männer. Für einen Moment glaubte Hobnaj, der Blick des Kapitäns würde ihn ans Achterhaus nageln. Hatte er ihn erkannt?
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