Die unsichtbare Pyramide
»Unliebsame Zeitgenossen« nannte die vom Hof zensierte Presse diese Querulanten. Hobnaj hatte einige Freunde unter ihnen.
Einer besaß einen Kahn und wohnte unweit der großen Pyramiden. Der Fischer war zwar nicht begeistert, als er mitten in der Nacht geweckt wurde, aber er fühlte sich seinem Freund verpflichtet und ließ sich nach kurzem Widerspruch dazu überreden, den Nubier und das Kind zur Unterstadt zu fahren. Hier hoffte Hobnaj ein geeignetes Versteck zu finden. Möglicherweise konnte das Kind ja doch in Memphis aufwachsen und regelmäßig seine richtige Mutter sehen.
Er kannte einen älteren Kupferschmied und seine Frau, aufrichtige Leute, die kinderlos waren. Bei ihnen würde Gisas Kind in guten Händen sein. Als er das namenlose Gässchen betrat, in dem die beiden wohnten, musste er eine Besorgnis erregende Entdeckung machen: Vor dem Haus stand ein schwarzer Mannschaftswagen. Der Amjib hatte eine Schwäche für diese vielseitig verwendbaren Fahrzeuge, wie Hobnaj sehr wohl wusste. Er schmiegte sich in einen dunklen Winkel und behielt das Haus des Kupferschmieds im Auge. Nur wenige Minuten später führten vier Männer in Zivil das Ehepaar auf die Straße hinaus, öffneten die hinteren Türen des Kastenwagens und stießen ihre Gefangenen hinein. Die Räder wirbelten noch kurz den Staub der unbefestigten Gasse auf, dann waren die Geheimpolizisten mit den Festgenommenen verschwunden. Niemand schien etwas von der Entführung bemerkt zu haben – oder keiner wollte sie zur Kenntnis nehmen. Hobnaj kannte derlei Willkürakte nur zu gut. Sie waren in Baqat an der Tagesordnung.
Leise wie ein Schatten verschwand er aus der totenstillen Gasse.
Es hatte keinen Sinn, in Memphis weiter nach einem Schlupfwinkel für das Kind zu suchen. Wenn Pharao Isfet sogar die unsichtbaren Reviergrenzen der Unterstadt nicht mehr respektierte, dann gab es nur einen Weg, um Topras Leben zu retten: Der Junge musste die Stadt und das Land auf dem schnellsten Wege verlassen.
Hobnaj achtete die Blume vom Nil wie keine andere Frau und vielleicht besser als er selbst hatte der arme Adit erkannt, welche Gefühle der Leibwächter für seine Herrin tatsächlich empfand. Sie schien davon nichts zu ahnen, ihn eher wie einen väterlichen Freund zu sehen, und aufgrund seines Alters durfte er dies auch sein. Doch er wäre gerne mehr gewesen. Wenn er sich wenigstens ihres Kindes hätte annehmen können! Aber das war unmöglich. Sein Foto, Irismuster und DNA-Fingerabdruck standen zweifellos schon auf der Fahndungsliste.
Zum Glück hatte Hobnaj in der Unterstadt noch mehr Verbündete, manche schuldeten ihm einen Gefallen, andere waren langjährige Freunde. So fuhr er bald auf einem Eselskarren, unter Lumpen versteckt, zum Fluss hinab. Vor einer Straßensperre glitt er samt Kind in eine Nebengasse, durchquerte hierauf ein Privathaus, dann einen geheimen Tunnel, ließ sich sodann in einer Gruppe mehr oder weniger Betrunkener Richtung Hafen treiben und schlüpfte zuletzt in ein schwarzes Mönchsgewand, dessen weite Falten nicht nur ihm, sondern auch seinem kleinen Schutzbefohlenen Bedeckung und Tarnung boten.
Endlich erreichte Hobnaj das alte Hafenbecken, wo die Segelschiffe der privaten Kauffahrer vertäut lagen. Er vermutete, dass die Überwachung der Geheimpolizei in diesem von unzähligen Kanälen durchzogenen Bezirk noch lückenhaft war. Hier müsste ein hochseetüchtiges Schiff zu finden sein.
Eine Weile streifte Hobnaj durch die Gassen, die zu den Kais führten. Je länger er die Schiffe musterte, sie für ungeeignet befand, sich wieder in die Schatten zurückzog und nach weiteren Seglern Ausschau hielt, desto ungeduldiger wurde er. Einmal wäre er beinahe der Polizei in die Arme gelaufen und kurz danach den Beamten der Hafenbehörde, die selbst hier bereits Häuser und Schiffe durchsuchten. Schon setzte die Dämmerung ein. Es würde bald aussichtslos sein, sich unbemerkt auf ein Schiff zu schleichen.
Unvermittelt hörte Hobnaj aufgeregte Stimmen. Irgendjemand polterte da mit derben Worten, wie es nur Seeleute zu tun vermochten. Vorsichtig schlich er die Gasse hinab, aus der ihm der Lärm entgegenkam; sie stieß im rechten Winkel auf den großen Hauptkai. Dort beschwerte sich ein vollbärtiger blonder Seebär im trüben Licht einer einsamen Laterne lautstark bei drei Offiziellen über die soeben abgeschlossene Durchsuchung seines Schiffes. Es handelte sich um eine Dhau von mächtigen Ausmaßen. Normalerweise besaßen diese wendigen
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