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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nassen Felsen auf sich zurasen und schloss entsetzt die Augen. Du dummes Schaf. Ich wollte dich doch nur von der Klippe retten…
    Was er als furchtbar schmerzhaften Aufprall erwartete, entpuppte sich als eine überraschend sanfte Berührung an seinem Ohr. Es kitzelte ein wenig. Gleich darauf gellte an derselben Stelle ein meckernder Laut.
    Dwina hatte geblökt.
    Überrascht riss Trevir die Augen auf. Er lag wieder auf dem schmalen Vorsprung. Das Lamm stand über sein Gesicht gebeugt, scheinbar entzückt von der Wiederkehr seines Hirten. Widerstandslos ließ es sich von ihm an die Brust drücken. Vorsichtig setzte er sich auf. »Was ist da eben passiert?«, fragte er das Schaf.
    Dwinas Antwort bestand in einem kleinen »Mäh!«.
    »Du bist mir heute keine große Hilfe.« Unbehaglich blickte er auf die See hinaus und murmelte leise: »Was geschieht mit mir?«
    Als er sich auf die Suche nach dem verirrten Tier begeben und es schließlich in den Klippen entdeckt hatte, war er noch ein normaler Junge gewesen, ein angehendes Mitglied der Bruderschaft, ein Hirte, der jedes seiner Schäflein liebte. Wie schon früher wurden seine Augen von dem Lamm regelrecht angezogen und bald entdeckte er es, obwohl es überhaupt keine direkte Sichtlinie zu dem kleinen Ausreißer gab. Trevir hatte hierauf an der steilen Felswand nach einem Weg gesucht, irgendeinen schmalen Grat, über den er zu Dwina gelangen konnte. Aber dann, als eine Rettung aussichtslos erschien und er vor Verzweiflung und hilflosem Zorn zu weinen begonnen hatte, fühlte er plötzlich dieses Ziehen. Vor Schmerz kniff er die Augen zusammen und als er sie kurz darauf wieder öffnete, befand er sich auf dem Vorsprung.
    Vielleicht ging es ja auch umgekehrt. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Der Junge rückte noch einmal seinen Schützling in den Armen zurecht, schloss erneut die Augen und wünschte sich zur Herde zurück. Dann wartete er einen Moment.
    Sein Gefühl sagte ihm, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Vorsichtig hob er ein Augenlid. Nein, es hatte sich nichts verändert.
    »Warum ging’s vorhin und nicht jetzt?«, murmelte er. Das ständige Selbstgespräch gehörte zum normalen Verhalten unter der kleinen Bruderschaft von Sceilg Danaan. Tagsüber gingen die Mitglieder des Ordens oft allein ihren Verrichtungen nach. Wer einem Gedanken Gehör verschaffen wollte, musste entweder bis zum Abend warten oder ihn sich selbst mitteilen.
    »Du hast diese Unruhe gespürt«, rief sich Trevir seine Stimmung der letzten ein oder zwei Wochen ins Gedächtnis. Es war ihm so vorgekommen, als schwele ein Feuer in ihm, das unbedingt herauswollte, es aber nicht konnte. Er hatte dieses Gefühl auf die Ungeduld geschoben, weil sein großer Tag immer näher kam. Heute sollte er als Erwachsener in den Dreierbund aufgenommen werden. Wie hatte er sich darauf gefreut! Und jetzt saß er hier in den Klippen fest.
    »Du bist ein Empfänger.« Auch diese Worte, von dem Jungen leise ausgesprochen, kamen aus seiner Erinnerung. Sie stammten nicht von ihm. Er hörte sie zwar regelmäßig, wenn er mit Bruder Qennouindagnas, einem ehemaligen Seemann, aufs Meer hinausfuhr und das Segelboot wieder einmal mit traumwandlerischer Sicherheit zum nächsten Fischschwarm lotste, aber zum allerersten Mal hatte ihn schon vor vielen Jahren Meister Aluuin einen »Empfänger« genannt. Trevir war zuvor ein erstaunliches Kunststück gelungen. Das Oberhaupt des Dreierbunds hatte seinen Lieblingsstab verlegt, ein knorriges langes Ding, auf das er sich mit Vorliebe zu stützen pflegte, wenn er seinen Mitbrüdern alt und weise erscheinen wollte. Der Meister hatte weder das eine noch das andere nötig: Er war erstaunlich rüstig und klüger als jeder andere Mensch, den Trevir kannte. In alltäglichen Dingen jedoch ließ Aluuins Gedächtnis bisweilen zu wünschen übrig.
    Auf alle Fälle war der Stab verschwunden. Alte wie junge Brüder durchsuchten aufgelöst sämtliche clochans, die wie große Bienenkörbe an den Klippen klebenden Steinhütten des Ordens. Um Aluuins Laune stand es nicht zum Besten. Da kam der fünfjährige Trevir – damals noch in Begleitung eines älteren Mitbruders – von der Weide. Weil er mit dem Oberhaupt der Einsiedelei in derselben Hütte wohnte, platzte er unbekümmert hinein und wunderte sich über die steile Falte auf der Stirn seines Lehrers.
    »Bist du traurig, Meister Aluuin?«, fragte der Junge.
    »Nein, wütend«, brummte der Alte.
    »Über wen?«
    »Über

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