Die unsichtbare Pyramide
holte er tief Atem, ging in die Hocke und sprang.
Das Gefühl, innerhalb so kurzer Zeit ein zweites Mal über dem Abgrund zu hängen, hatte etwas Albtraumhaftes. »Nur nach oben sehen«, keuchte Trevir, »nie nach unten.« Er lag mit der Brust auf dem flachen, fast waagerechten Sims und seine Hände suchten im Vogelkot nach einer Spalte oder einer Felsnase. Der Rest seines Körpers baumelte herab.
Trevir hatte sich die Klippenwand vor dem Sprung genau angesehen. Da gab es Risse und vorstehende Felsen. Bald wurde sein rechter Fuß fündig, stützte sich in einer Ritze ab. Dadurch konnte er sich ein Stückchen weiter hochdrücken und mit der Hand eine Bruchkante erreichen. Gleichzeitig ziehend und mit dem Bein schiebend gelangte er so eine Stufe höher. Von da ab ging alles ganz einfach. Sonne und salzige Gischt, Wind und Wetter, Sommerhitze und Winterkälte hatten hier einen Pfad geschaffen, der für einen achtsamen Hirtenjungen fast ebenso leicht zu bewältigen war wie für ein neugieriges Lamm. Oben auf den Klippen wurde Trevir von Dwina empfangen.
Sie blökte.
»Du hättest dir den Hals brechen können.« Aluuin sah alles andere als erleichtert aus. Das Wort »zornig« beschrieb viel zutreffender den Ausdruck in seinem Gesicht.
Trevir schien ganz in das Studium der eigenen Hände vertieft. Er hielt sie vor der Brust und pulte unter den Fingernägeln.
Schüler und Meister standen inmitten einer Herde von etwa vier Dutzend Schafen. Das Oberhaupt des Dreierbunds hatte sich höchstpersönlich auf die Suche nach seinem überfälligen Zögling begeben und ihn schließlich auf der Klippe gefunden. Bei Sonnenuntergang sollte das Initiationsfest beginnen und bis dahin gab es noch einiges zu besprechen.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte der Alte.
»Ich habe mir diesen… Sprung nicht ausgesucht«, sagte Trevir mit kläglicher Stimme.
Aluuin stieß einen tiefen Seufzer aus, legte den Arm um die Schulter des Jungen und nickte. »Ich weiß. Du hast wieder etwas empfangen, nicht wahr?«
Von seinem Meister geschoben setzte sich der Junge in Bewegung. Er antwortete mit einem Nicken.
»Erzähle mir von dem, was du einen ›Sprung‹ nennst.«
Trevir fasste die Geschehnisse auf der Klippe zusammen.
»Die nächste Welle erreicht ihren Höhepunkt«, sagte Aluuin darauf leise.
»Was bedeutet das, Meister?«
Die beiden wanderten gerade an einer Mulde entlang, in der sich Regenwasser gesammelt hatte. Aluuin blieb unverwandt stehen und bückte sich, gestützt auf seinen abgegriffenen Lieblingsstab, nach drei kleinen Kieseln. »Was geschieht, wenn ich den ins Wasser werfe?«, fragte er und zeigte seinem Schüler einen Stein.
»Er geht unter«, antwortete Trevir.
»Na gut. Und was passiert noch?«
Der Junge dachte kurz nach, zuckte die Achseln und riet: »Er zieht Ringe.«
»Hervorragend!«, freute sich Aluuin und nickte. »Er zieht Ringe. Kleine Wellen breiten sich kreisförmig aus. Nun sage mir, was passieren wird, wenn ich die drei Steinchen, die du hier in meiner Hand siehst, gleichzeitig in die Pfütze werfe.«
»Dann gehen alle drei unter.«
Der Alte schloss die Augen, als müsse er sich erst sammeln. Als er sie wieder öffnete, blickten sie streng in Trevirs Unschuldsmiene. »Und?«
»Jeder treibt Ringe aus.«
»Schon besser…«
»Die sich irgendwann überschneiden.«
»Sehr gut! Beeinflussen sie sich gegenseitig?«
So tief hatte Trevir noch nie über das Wesen von ins Wasser fallenden Steinen nachgedacht. Er schob die Unterlippe vor. »Ich glaube schon.«
»Das tun sie, Junge«, sagte das ehrwürdige Oberhaupt vergnügt und schleuderte wie ein kleiner Junge die Kiesel ins Wasser. »Beobachte genau, was geschieht.«
Trevir ging in die Hocke und betrachtete angestrengt die Wellenringe. »Sie verändern sich, sobald sie aufeinander prallen«, sagte er nach einer Weile.
»Behalten die Wellen ihre Höhe bei?«, half Aluuin nach.
»Schwer zu sagen, Meister. Ich würde meinen: Da, wo zwei Wellenberge zusammenstoßen, vereinigen sie ihre Kraft – sie werden höher.«
»Und wenn ein Wellental auf einen -berg trifft, schwächen sie sich gegenseitig ab; manchmal verschwinden sogar beide. Jetzt hast du das Wesen der Wellen begriffen!« Aluuin stützte sich mit beiden Händen auf den Stab und strahlte.
Eine längere Pause trat ein.
»Meister?«, brach schließlich Trevir das Schweigen.
»Was ist, mein Junge?«
»Was haben die Steine mit meinem Sprung auf die Klippen zu tun?«
Der Alte ließ
Weitere Kostenlose Bücher