Die unsichtbare Pyramide
mich.«
»Warum?«
»Weil ich schon wieder meinen Stab suchen muss.«
»Welchen?«
»Na welchen schon!«
»Den verhutzelten.«
»Ja. Wobei das Wort verhutzelt nicht ganz zutreffend ist. Verhutzelt sein kann das Gesicht einer Greisin oder ein altes Männlein oder…«
»Du auch, Meister?«
»Ich bin niemals verhutzelt.«
»Schick doch jemanden zum Brunnen.«
»Ich habe keinen Durst.«
»Ich auch nicht.«
Aluuin blickte sich grimmig in seiner runden Stube um. Sie war etwas größer als die anderen, aber mit den beiden Betten, einer Truhe, einem Tisch und zwei Stühlen immer noch sehr übersichtlich. Neben der Tür standen fünf oder sechs Stäbe, aber der knorrige fehlte. Mit einem Mal runzelte der Alte die Stirn und wandte sich wieder seinem Schüler zu.
»Weshalb soll ich jemanden zum Brunnen schicken, mein Junge?«
»Na, um deinen Stab wiederzubekommen, Meister.«
Das Oberhaupt des Dreierbunds war hierauf zur Tür geeilt, hatte sich einen Ersatzstab gegriffen und sich zum Brunnen aufgemacht. Trevir heftete sich an seine Fersen.
Der Brunnen war nicht sehr tief, eigentlich nur ein Schacht, der zu einer unterirdischen Quelle führte. So hatte Bruder Taarndol – er war klapperdürr – mit Leichtigkeit an einem Seil bis auf den Grund hinabsteigen können, um den Stab zu bergen. Anschließend zog Lindenwächter beide im Nu wieder nach oben. Das mächtige Pferd fühlte sich damit etwas unterfordert und Taarndol schoss geradezu aus dem Brunnen hervor. Meister Aluuin war überglücklich, was aber nur seine funkelnden grünen Augen verrieten. Sein Gesicht blieb streng, als er sich an Trevir wandte.
»Hast du den Stab da runterfallen lassen, mein Junge?«
»Nein, Meister.«
»Dann konntest du aber bestimmt sehen, wie ihn jemand hineingeworfen hat?«
Trevir schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Meister.«
»Ist er etwa… mir aus der Armbeuge gerutscht, als ich heute früh Wasser holte?«
»Weiß ich nicht.«
»Aber wie konntest du dir dann so sicher sein, dass er dort unten ist?«
»Ich hab mich umgeschaut.«
Nach dieser Äußerung war der Meister ein wenig unruhig geworden, gemessen an seiner sonstigen Gelassenheit vielleicht sogar mehr als nur ein wenig. Er zog Trevir in sein Clochan, schloss die Tür und ließ sich das »Umschauen« nun ganz genau erklären.
Solange Trevir denken konnte, hatte er auf Sceilg Danaan gelebt. Fast alles, was er über die karge, sturmumtoste Insel wusste, stammte von Aluuin. In der Zeit vor der Zeit war sie der großen Göttin Dana gewidmet gewesen, deren Thron man hier vermutete und die ihr den ersten Namen gab – viele sollten noch folgen. Lange hatte Sceilg Danaan den Druiden gehört, die hier den Lauf der Gestirne beobachteten. Später kamen Männer, die anderen Göttern huldigten. Sie waren die Erfinder der Clochans und Gründer eines Klosters gewesen, das sie St. Fionan nannten – es existierte nur noch in Aluuins Gedächtnis.
Etwa zehn Meilen weiter westlich begann das Festland, von dem der Alte behauptete, es sei selbst nur eine große Insel. Die dort Lebenden hielten Sceilg Danaans Bewohner für Zauberer. Wenn Aluuin mitleidvoll vom Aberglauben der einfachen Leute sprach, sagte er Dinge wie: »Sie wissen so gut wie nichts vom Gleichgewicht, und das wenige, was ihnen bekannt ist, haben Mystiker und andere Verführer entstellt. Wie können sie da seine Kräfte verstehen?«
Wenn es auch noch lange dauern sollte, bis sich derlei Äußerungen Trevir völlig erschlossen, hatte der Alte seinem Schüler damit doch schon früh ein weit gefasstes Verständnis vom Möglichen und Unmöglichen vermittelt. Daher redete der Junge bei der unter vier Augen stattfindenden »Anhörung« sehr unbekümmert über seinen merkwürdig weitschweifenden Blick.
»Erzähle niemandem davon. Hörst du, mein Junge? Niemandem!«, mahnte der Meister, nachdem er sich die wundersame Entdeckung des knorrigen Stabes hatte erklären lassen.
»Warum?«, fragte Trevir.
»Die einen könnten zu viel verstehen und die anderen zu wenig.«
»Ist das schlimm, Meister?«
»Schrecklich wäre das, mein Junge. Am meisten musst du dich vor denen in Acht nehmen, die dich nicht verstehen können und sich auch keine Mühe geben, es je zu tun. Sie sind es, die uns für eine geheimnisvolle Bruderschaft von Druidenmagiern halten. Deshalb fürchten sie uns. Aber solcherlei Angst ist ein schlechter Berater. Die Menschen neigen schnell dazu, zu zerstören, was ihnen fremd erscheint. Du hast gesagt, der Stab war
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