Die unsichtbare Pyramide
in dem Brunnen für dich deutlich zu sehen?«
Trevir nickte.
»Obwohl die Wand des Clochans und das felsige Erdreich dazwischen lagen?«
»Ja.«
»Hast du dich schon des Öfteren auf diese Weise… umgeschaut?«
»Weiß nicht. Ich hab nie darauf geachtet.«
»Tust du mir einen Gefallen, Trevir?«
»Ja, Meister.«
»Wenn du das nächste Mal etwas siehst, das hinter einer Wand, einem Felsen oder irgendwo sonst liegt, wo du es mit einem Pfeil unmöglich treffen könntest, dann kommst du und erzählst es mir. Einverstanden?«
»Ist gut. – Meister?«
»Ja, mein Junge?«
»Bin ich krank?«
Aluuin erschrak. Rasch nahm er seinen Schüler in den Arm – was eher selten geschah – und drückte ihn fest an sich. »Nein, mein Sohn. Was du hast, ist keine Krankheit. Man nennt es eine Gabe. Du bist ein Empfänger.«
»Warum?«
Der Alte hörte die Stimme des Kindes dumpf aus den Falten seiner Kutte dringen und gab Trevir etwas mehr Raum zum Atmen, bevor er antwortete: »Weil du Dinge empfängst, die niemand sonst erhält. Du siehst, wo selbst deine Brüder nur vermuten können. Und möglicherweise wirst du noch mehr an dir entdecken, das anderen fremd erscheint. Deshalb möchte ich, dass du alles – was immer dir Überraschendes passieren mag – zuerst mir erzählst.«
Trevir nickte. »Und warum?«
Aluuin legte seine Hände auf die Schultern des Jungen, sah ihm fest in die Augen und antwortete: »Weil dir die Kräfte des Triversums anvertraut worden sind. Du wirst sie einmal lenken können, so wie du heute Lindenwächter am Zügel dorthin führst, wo du es willst. Das macht dich zu einem wahrhaft mächtigen Empfänger. Kannst du mir folgen?«
»Nein, Meister.«
Aluuin strich ihm über das schwarze Haar. »Es wird der Tag kommen, da du mich verstehst. Fürs Erste musst du dir nur Folgendes merken: Auf Trimundus gibt es nicht nur gute Menschen, die das Gleichgewicht bewahren möchten, sondern leider auch böse, die es aus eigennützigem Sinnen stören wollen. Aber das wäre aller Menschen Untergang. Wir sollten das verhindern, denkst du nicht auch?«
Trevir nickte ernst.
»Natürlich wirst du deine Gaben auf Dauer nicht geheim halten können, weil sie für dich selbstverständlich sind.«
Der weise Aluuin sollte Recht behalten. Bald war auch anderen aufgefallen, mit welcher Leichtigkeit Trevir Verlorenes wiederfinden oder absichtlich Verborgenes ans Licht bringen konnte. Nicht immer erntete er dafür Beifall, denn auch in einer Bruderschaft wie der vom Dreierbund wollte und durfte man gewisse Dinge ganz für sich behalten. Inzwischen war Trevir ein nachdenklicher und eher verschwiegener Junge geworden, der mit großer Wissbegier alles Neue in sich aufsog und die Zeit, die er beim Schafehüten verbrachte, zum Nachdenken und für seine Selbstgespräche nutzte. Im Moment redete er allerdings mit einem kleinen Schaf.
»Irgendwie musst du doch hier heruntergeklettert sein, Dwina. Wie wär’s mit einem kleinen Hinweis?«
Das Lamm blökte.
»Hab ich mir fast gedacht.«
Trevirs Augen verfolgten einen Tölpel, der vom Meer her direkt auf die Felswand zuflog und über seinem Kopf verschwand. Sie nisteten jedes Jahr zu tausenden in den Klippen. Wo war der Vogel gelandet? Der Blick des Jungen wurde starr. Über ihm und leicht zur Seite versetzt ragte eine Klippe weit heraus. Ihre Oberseite war flach wie eine Treppenstufe. Und dort stand der Tölpel. Trevir kniff die Augen zusammen, weil er den Vogel nur verschwommen wahrnehmen konnte – das hatte er schon oft erlebt, wenn er »um die Ecke« spähte. Vorsichtig richtete er sich mit dem Lamm im Arm auf.
Der unerklärliche »Sprung« in die Steilwand hatte ihn dort auf allen vieren »landen« lassen, es folgten der grauenhafte Sturz und hiernach das Liegen auf dem Rücken. Als er sich jetzt hinstellte, veränderte sich seine Perspektive dramatisch (mit seinen fünf Fuß und neun Zoll überragte Trevir bereits manchen seiner Brüder). Sich mit dem Rücken an die Wand drückend, ging er auf die Zehenspitzen und konnte den Absatz nun sogar direkt, anstatt nur mit den inneren Augen des »Empfängers«, sehen. »Das ist ein riesiger Sprung für ein so kleines Lamm«, murmelte er bange.
Er fasste sich ein Herz und stemmte Dwina in die Höhe. Unter ihm toste der Ozean. »Rauf da mit dir!«, befahl Trevir und schob das Lamm gleichzeitig auf den Absatz. Im nächsten Moment war es verschwunden.
»Was einem Schaf gelingt, das kannst du auch«, machte er sich Mut. Noch einmal
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